Wir sind froh, dass der Atlantik dazwischen liegt und die Typen nicht zu uns kommen, sagen die Brasilianer mit Blick auf die umtriebigen Dynamit- und Messeraktivisten in Westeuropa. Der Atlantik als Sicherheitszone, zuverlässiger als das Mittelmeer. So ähnlich reagierte auch Walter Smetak, als er 1937 nach Brasilien emigrierte: „Ich dachte, es wäre besser, mich auf das freiheitliche Durcheinander der Tropen einzulassen als mich dem von Hitler angezettelten europäischen Desaster auszuliefern.“ Der 1918 in Zürich geborene Cellist ließ sich erst im Süden des Landes nieder und kam dann in den fünfziger Jahren nach Salvador im Nordosten, wo er zunächst im Sinfonieorchester spielte und Cellounterricht gab.
Dann begann er seine merkwürdige Tätigkeit, dank deren er über seinen Tod hinaus als Pionier einer neuen Musik im Gedächtnis geblieben ist: Er baute Instrumente. Sonderbare Streichins-
trumente mit zwei oder drei Saiten und Kalebassen als Resonanzkörper, zahllose Flöten aus Naturmaterialien, fantastisch bemalte Zithern, Apparate mit einem zentralen Schallkörper und vierundzwanzig Schläuchen zum kollektiven Hineinblasen. Zunehmend nahmen die Instrumente die Gestalt von autonomen Skulpturen an, die man irgendwie zum Klingen bringen konnte. Mit diesen „Plásticas sonoras“ führte Smetak Improvisationsrunden mit esoterischem Einschlag durch, an denen auch die später weltbekannten Stars des Tropicalismo, Gilberto Gil und Caetano Veloso, zeitweise teilnahmen. Theosophie, Anthroposophie und fernöstliche Lehren verbanden sich in Smetaks Weltanschauung zu einer spirituellen Suche.
Beflügelt wurde er durch die Atmosphäre im kulturellen Melting Pot Salvador, wo afrikanische, europäische und indianische Ingredienzien sich zu einer Vielzahl von geistig-religiösen Strömungen vermischen.
Nach Smetaks Tod dämmerten seine Instrumente lange in irgendwelchen Abstellräumen der Universität vor sich hin, bis sie vor einigen Jahren renoviert und in ein Museum gebracht wurden, wo man sie heute besichtigen kann: schön zum Anschauen, als Musikinstrumente aber ungenutzt. Das wird sich nun ändern. Im Juli kamen nämlich auf Einladung des Goethe-Instituts einige Mitglieder des Frankfurter Ensemble Modern nach Salvador, um die Instrumente kennenzulernen und zusammen mit drei brasilianischen Komponisten ihre Verwendbarkeit für neue Werke zu testen.
Im nächsten Jahr wird das Ensemble mit den neuen Kompositionen auf Tournee in Deutschland und Brasilien gehen. Was steckt hinter dieser Initiative? Ganz gewiss kein Exotismus und auch keine Laune nach dem Motto: Jetzt machen wir einmal etwas anderes. Die Motive und Überlegungen reichen weiter, und vor kurzem arbeitete das Ensemble Modern auf ähnliche Weise bereits mit indonesischen Komponisten zusammen.
Die Unternehmungen stehen in einer Reihe mit den Konzerten, die die Kölner Musikfabrik mit den Instrumenten von Harry Partch gab. In all diesen Fällen geht es um die Erschließung neuer mikrotonaler Dimensionen, in Verbindung dem Zugang zu weit entfernten Kulturen.
Ablesen lässt sich daraus dreierlei: Erstens das unausgesprochene Eingeständnis, dass fruchtbare Vorstöße in kompositorisches Neuland im Moment offenbar weniger aus dem üblichen Zirkelwesen der Neuen Musik zu erwarten sind und man deshalb die Fühler woanders ausstreckt. Zweitens sind diese Initiativen ein Hinweis auf die wachsende Bedeutung, die Komponisten und Interpreten der Mikrotonalität und den mit ihr verbundenen irrationalen Rändern der Tonsysteme beimessen. Und drittens: Die Relativierung der Insel Europa schreitet auch im Kulturbereich unaufhaltsam voran.
Ein von aggressiven Beimischungen und Aufdringlichkeiten freier Dialog, wie er nun mit den Instrumenten von Walter Smetak entsteht, ist dabei für beide Seiten nur ein Gewinn. Vorteil der Globalisierung: Für die Kultur ist der Atlantik heute kein Hindernis mehr.