„Wo wird das Konzert stattfinden? Haben wir es noch weit?“
„Die Straße hinunter, dann rechts.“ Antonio hatte es nicht gewagt, die automatische Navigation zu aktivieren. Aber es war ihm nicht schwer gefallen, sich den Weg zu merken.
„Und sie machen wirklich noch Musik? So wie früher?“
„So scheint es. Ich kann nur unseren Quellen vertrauen.“
„Wie unglaublich archaisch. Wie wird das klingen?“
„Ich weiß es auch nicht.“
Antonio stieg vorsichtig über eine Metallstange, die mitten auf dem Weg lag. Sie sah aus wie ein Teil eines alten Elektroscooters.
„Ich frage mich, wie die Menschen hier überleben.“ Daniela war ungewöhnlich gesprächig. Manchmal verbrachten sie Stunden gemeinsam, ohne ein einziges Wort miteinander zu sprechen.
„Sie verzichten auf viele Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation. Niemand kann sich hier Einkaufsdrohnen oder KI-Assistenten leisten.“
„Wie armselig. Ich habe richtig Mitleid mit ihnen!“
Antonio war sich nicht so sicher, ob Mitleid das richtige Gefühl in dieser Situation war. Ihn faszinierte das Leben in der Vorstadt schon seit Langem. Diese Menschen lebten ohne Normen, ohne Regeln. Sie erzählten sich ihre eigenen Geschichten, nahmen nicht an den weltumspannenden VR-Soaps teil, sangen ihre eigenen Lieder.
„Ich könnte es hier nicht lange aushalten, so ohne Erzähler und Jukebox.“
Antonio wusste, was sie meinte. In der Stadt war es gang und gäbe, sich den ganzen Tag mit Erzählungen, Farben, Klängen und Gerüchen zu umgeben, die einen ständig bei Laune hielten. Den Menschen der Stadt mangelte es an nichts, ihre Welt war bis ins letzte Detail generativ gestaltet, voller Entertainment. Die KIs griffen auf eine unendliche Datenbank menschlicher Leidenschaften zurück und fanden immer den richtigen Ton und die richtige Ansprache. Die Spannungsverläufe jeder Geschichte und jedes Musikstücks waren auf die jeweiligen Rezipienten so angepasst, dass es ihnen an nichts fehlte. Die digitale Fantasie war grenzenlos, wohlfeil abgestimmt und geschmackvoll, ein einziges lebenslanges Abonnement reichte aus.
Die meisten hatten verlernt, sich noch selbst kreativ zu betätigen. Aber das machte nichts – die Daten reichten viele Jahrzehnte bis in die Anfänge des sogenannten „Internets“ zurück und waren längst noch nicht ausgeschöpft. Nur wenige Mahner sahen voraus, dass die Ressourcen menschlicher Kreativität irgendwann ausgeblutet sein könnten wie früher die Ölquellen. Antonio war einer von ihnen.
„Hast du das gehört? Das klingt abscheulich!“, sagte Daniela.
Aus ihrer Perspektive mochte das stimmen. Sie hörten unausgegorene und fremdartige, geradezu menschliche Klänge, die der Wind zu ihnen herübertrug. Das „Konzert“ konnte nicht mehr fern sein.
Schnellen Schrittes näherten sie sich einer kleinen Ansammlung von Menschen, die sich um ein skurriles „Trio“ versammelt hatten. Antonio hatte schon lange keine echten Instrumente mehr gesehen. Kaum jemand konnte sie spielen und sie wurden schon lange nicht mehr hergestellt.
Daniela und Antonio mischten sich unauffällig unter das kleine Häuflein von Menschen, die sichtlich ergriffen der skurrilen Musik lauschten. So etwas hatte er noch nie gehört. Es waren raue, ungefilterte und fast abschreckende Klänge. Die menschlichen Musiker gaben ihr Bestes, aber ihre Bemühungen hatten etwas Unbeholfenes und charmant Unperfektes. Hier und da war sich Antonio nicht sicher, ob alle Töne wirklich so gemeint waren, oder ob es sich um kleine Unsauberkeiten beim Bespielen der Instrumente handelte. Hier ein ausgeglittener Finger, hier eine ungenaue Intonation. Es war fantastisch! So musste Musik klingen – außerhalb jeglicher Norm, wild und frei. Sie war Ausdruck eines Bedürfnisses und eines In-der-Welt-seins. Und anders als die Musik der KIs war es den Musikern vollkommen egal, ob sie den perfekten Stil fanden, der auf seine Bedürfnisse passte. Allein der Akt des Zuhörens war Teil einer komplexen Kommunikation.
Wussten die Städter, was ihnen da fehlte? All dies war es wert, dieses ärmliche Leben, diese jämmerliche Existenz in der Vorstadt. Diese Menschen waren so viel lebendiger als die Städter es waren, und ihre auf so charmante Weise unperfekte Musik war Ausdruck eines ganz speziellen Lebensgefühls, wie es nur hier und jetzt in diesem Universum existierte.
Antonio war zufrieden, obwohl er spürte, dass Daniela die Erhabenheit des Moments entgangen war. In diesem Moment war er eins mit den Menschen, mit ihren Träumen, mit ihren Sehnsüchten.
Stunden später machten sie sich auf den Nachhauseweg. Es fielen nicht viele Worte zwischen ihnen, weder beim Besteigen der Tunnelbahn noch beim Abschied auf der Plattform. Das war auch nicht nötig.
Als Antonio sein Apartment erreichte, überprüfte er den Datenleser, den er in der rechten Hosentasche versteckt hatte. Er lächelte zufrieden – das ganze Konzert war perfekt aufgezeichnet worden, die Daten waren schon jetzt auf der Cloud gesichert und nun Teil des weltweiten Informationsnetzes, mit dem er in jeder Sekunde in Verbindung stand. Die KIs konnten nun endlich wieder neue Musik generieren, die man so noch nie gehört hatte.
N-TON-0 freute sich schon jetzt darauf. Und natürlich auch darauf, am nächs-ten Tag D-NIE-11 wiederzusehen. Aber jetzt musste er sich dringend aufladen.
Mit einer geübten Handbewegung öffnete er seinen Bauchverschluss, holte das Stromkabel heraus und steckte es in eine Dose in der Wand. Das Standby würde ihm gut tun.