Diesmal wird bei Beckmesser nicht gemeckert, sondern gelobt. Es hat etwas Erhebendes, wenn neuntausend Kilometer von Europa entfernt am Rande des Pazifik ein einheimischer Chor unfallfrei durch die Kyrie-Fuge aus Mozarts Requiem navigiert, mit Inbrunst das Sanctus anstimmt und um den ewigen Frieden für die Toten bittet. Das Christentum ist dort eine Randerscheinung, Latein noch weniger geläufig als bei uns, aber die europäische klassische Musik wird mit Begeisterung gehört und aktiv gepflegt.
Die Rede ist von Japan, genauer von Takefu, heute offiziell Echizenshi genannt, einer Stadt von 85.000 Einwohnern. Es gibt dort einen Laienchor, der sich seit Jahren unserer Musik annimmt und jedes Jahr ein festliches Konzert mit einem neu einstudierten Stück gibt – diesmal dem Mozart-Requiem. Und um diese Aktivitäten in einen größeren kulturellen Rahmen zu stellen, gründete man 1990 ein kleines Festival und ernannte Toshio Hosokawa zum künstlerischen Leiter. Finanziert wird es durch Spenden und öffentliche Zuschüsse, und ein Trägerverein, der mehrheitlich aus Chormitgliedern besteht, organisiert das Ganze in Freizeitarbeit. Es ist eine musikalische Bürgerinitiative, die ihresgleichen sucht. Einzige Bedingung für die freiwillig geleistete Arbeit: Der Chor bestreitet das Schlusskonzert. Einstudiert werden die Auftritte schon seit mehreren Jahren vom Düsseldorfer Dirigenten Rüdiger Bohn. Der Chor hat ihn inzwischen adoptiert.
In dem Vierteljahrhundert seines Bestehens hat sich das Festival zu einem bedeutenden Treffpunkt zwischen Ost und West entwickelt. Es produziert keine großen Schlagzeilen, doch seine Wirkung ist nachhaltig. Das Geheimnis des Erfolgs liegt nicht zuletzt in Hosokawas Begabung, die sozialen und künstlerischen Kontakte der Teilnehmer über alle kulturellen Grenzen hinweg subtil zu befördern. So entsteht ein geistiger Freiraum, in dem sich europäische Klassik, internationale Moderne und fernöstliche Musiktradition ungehindert begegnen können. Einen starken Energieschub erhält das Festival durch die Nähe zum Publikum, und das heißt: zur normalen Bevölkerung. Die Menschen bringen unserer Musik ein vitales Interesse entgegen, was einen fast ein bisschen beschämt – wie groß ist das unsere für die japanische Musik? Ihre Weltoffenheit verbinden sie mit Stolz auf ihre eigenen Traditionen, und man fühlt sich gut aufgehoben in ihrer Gastfreundschaft. Ein lockeres Beiprogramm gewährt Einblicke in die traditionelle japanische Wohnkultur und die anderthalb Jahrtausende alte Kunst der Papierherstellung. Es gibt heiße Quellen und abendliche Sushi-Partys, bei denen sich die distanzierte Höflichkeit der japanischen Menschen in ein fröhliches Miteinander verwandelt.
Das Festivalprogramm hat Hosokawa im Lauf der Zeit schrittweise ausgebaut. Heute bietet es eine attraktive Mischung von traditioneller und zeitgenössischer Musik aus Europa und Japan, samt einem Familienkonzert für Jung und Alt, bei dem die besten Musiker des Festivals mitwirken. Musiziert wird in einem frisch renovierten, akustisch erstklassigen Mehrzwecksaal von rund tausend Plätzen, dazu kommen tägliche Abstecher in Schulen und ein stimmungsvolles Konzert in einem buddhistischen Tempel mit einer Mischung von klassisch japanischer und zeitgenössischer Musik. Parallel dazu gibt es eine Sommerakademie für Ins-trumentalisten mit eingeladenen Solisten, diesmal unter anderem mit dem Flötisten Mario Caroli, dem Klarinettisten Michel Lethiec und dem Shakuhachi-Spieler Tadashi Tajima.
Ein Kompositionsseminar unter der Leitung von Toshio Hosokawa bringt junge und erfahrene Komponisten aus Ost und West zusammen. Aus Europa kamen der Italiener Federico Gardella, die Rumänin Diana Rotaru und der Spanier Diego Ramos. Es sind Namen, die bei den Mainstream-Festivals bisher nicht aufgetaucht sind, die man sich aber merken sollte. Eine wichtige Brückenfunktion haben japanische Interpreten, die in Deutschland leben oder hier gelegentlich arbeiten: der Dirigent Seitaro Ishikawa aus Düsseldorf, die Pianistin Junko Yamamoto aus Stuttgart, die Bratschistin Tomoko Akasaka aus Berlin, die Sängerin Maki Ota und die Nô-Darstellerin Ryoko Aoki.
Die Konzerte balancieren gekonnt zwischen dem Anspruch der Neue-Musik-Profis und der allgemeinen Publikumserwartung, Nachwuchskräfte treten gemeinsam mit arrivierten Kollegen auf, neue und traditionelle Musik werden intelligent gemischt. Das Slowind-Bläserquintett aus Ljubljana rahmt Globokar mit Mozart, Ligeti und Janácek ein. Takemitsu wird kombiniert mit dem von Michel Lethiec berückend schön geblasenen Klarinettenquintett von Brahms, Debussy mit der wilden Flötensonatine von Boulez und Messiaens Quatuor pour la fin du temps, Schubert mit dem Gesang buddhistischer Mönche. Takefu macht vor, wie fruchtbares Miteinander der Kulturen aussehen könnte: auf der Basis der für Japan sprichwörtlichen, respektvollen Distanz gegenüber dem Anderen, verbunden mit der Achtung vor der eigenen Tradition. Wir könnten es uns als Vorbild nehmen.