Es gibt Gegenden in Deutschland, wo eine neue „braune Kultur“ ganz auf der Oberfläche der Gesellschaft in Erscheinung tritt. Darüber kann man in letzter Zeit in den „Politiker-Analysen“ genug und viel sich ärgern. Die Arbeitslosigkeit, die mache das aus uns. So einfach kann man es sich machen und ablenken davon, was sich „inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen“, wie sie Theodor W. Adorno nannte, abspielt.
Ein paar Beispiele: Das Landeskriminalamt Niedersachsen hat einen anonymen Denunziationsserver (im Internet) eingerichtet, der Verleumdungen sozusagen unter Staatsschutz ermöglicht. Mobbing unter Schülern ist zu einer erfolgreichen Methode der Durchsetzung ebenso geworden wie das Kuschen von Mitschülern und das häufige Kapitulieren der Erzieher in diesen Situationen. Knappe Ressourcen im medizinischen Sektor fordern geradezu nachhaltig unethische Verhaltensweisen nach dem Motto: „Wenn du das nicht machst, macht es eben ein anderer!“ Die letzte Umsetzung einer EU-Richlinie zur Telekommunikationsüberwachung und Vorratsspeicherung von Daten macht uns alle zu gläsernen potenziellen Verbrechern am Staat. Hohe deutsche Regierungspolitiker aus der 68er- und 70er-Generation setzen damit ihr Türaushängungsgebot in die Praxis um. Rundfunkräte degradieren sich selbst zu Abnickorgangen von Programmdirektoren und Intendanten und ignorieren letzte Reste bürgerschaftlicher Kritik. Und Rundfunkintendanten geben nichts auf Begriffe wie Kultur- oder Bildungsauftrag, orientieren sich lieber an Mediaanalysen. Deutsche Banken und andere Großkonzerne sind endgültig desinteressiert an Menschen. Aufmucker und Kritiker werden unter den gegenwärtigen Marktbedingungen einfach geschnitten, dazu bedarf es weder Entlassungen noch Abmahnungen. „Entweder du unterlässt deine Kritik, oder du bist raus, und niemanden wird das interessieren“, hört man immer häufiger. Der alte Staatszensor des 19. Jahrhunderts sitzt längst inmitten von uns selbst.
Ich muss mal persönlich werden. Als ich ein Kind war, in den 70er-Jahren, war es mir schlichtweg unbgreiflich, wie sich der Nationalsozialismus in Deutschland etablieren und durchsetzen konnte. Ich fragte mich: „Wie konnten sich Menschen das gefallen lassen?“ Heute bangt es mir weniger vor dem Nationalsozialismus, aber vor einem neuen Terror, denn die Bedingungen für eine neue allgemeine Selbstzerstörung der Gesellschaft haben sich nicht verändert. Adorno hat diese Bedingungen in seinem Text „Erziehung nach Auschwitz“ sehr genau beschrieben: „Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was man so »Mitläufertum« nennt, war primär Geschäftsinteresse: dass man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden.“ Wenn nicht alle einzelnen Phänomene täuschen, dann sind wir auf dem besten Weg, was Adorno in der Vergangenheit ausmachte: „Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, dass nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte; auch darauf machen sie stets erneut die Probe.“