Ich liege auf einem OP-Tisch, sehe ein mir bekanntes Gesicht, Wut überfällt mich. Ich soll was sagen, was Persönliches, ein finaler Check, also bitte: „Brutal, aber ich fühle mich seit Kurzem wie ein halbfertig programmierter Mutant.“
Theos Kurz-Schluss – Wie ich mich einmal verändern sollte und einfach zu wenig Hirn-Kapazität für die Zukunft hatte
Für alle, die auf ihrem (dann vermutlich dürftigen) Bildungsweg kein bayerisches humanistisches Gymnasium besucht haben, weder fließend Altgriechisch noch Latein sprechen können: Mutant leitet sich vom Lateinischen „mutare“ ab. Ein Verb, das so viele Bedeutungen hat, dass ich als Übersetzer-Pedant etwa neunhundert Nutzungsmöglichkeiten anführen könnte. Mach ich aber jetzt nicht. Ein lateinischer Sinnspruch, den eigentlich jeder verstehen sollte, schon weil ich ihn in den im Folgenden erwähnten Produkten fand, heißt: „Tempora mutantur, et nos mutamur in illos“. Alles klar? Zeitgeistig zitiert: „Da geht einer mit der Zeit.“ Tik-Tok-Niveau. DER SPIEGEL: „Die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen.“ Kleines Latinum. Und die „taz“: „Widerlich antiwokes Alt-Weiße-Männer-Gesabbel. Bildungs-Kleinbürger.“ Weil letztere Drucksache so ein feminakratisches Hetzblatt ist, hätte ich die Chef-Redaktrice einst wegen rassistischer (ja, ich bin weiß), sexistischer (ja, ich bin ein Mann), Altersdiskriminierung (ja, ich bin alt) verklagt. Hätte ich früher gnadenlos gemacht. Jetzt, als Mutant, lässt mich sowas kalt.
Ich langweile Sie mit dieser pseudophilosophisch, pseudophilologisch möchtegern-spitzfindigen bildungsbiographisch eigentlich nebensächlichen Petitesse, weil ich Sie darüber informieren möchte, dass ich irgendwann mal ein anderer war. Mutare heißt auch: Verändern. Mutant: Heutzutage gern verwendet, wenn man genverändert oder gechippt wurde. Und das kam bei mir so: Nach Donald Trumps Wahl zum letzten amerikanischen Präsidenten, der Bekanntgabe seiner Blutsbrüderschaft mit Putin und der Ernennung von Sahara Wagenknecht und Björn Höcke zu Verwaltern des Protektorates Old Germanski (reicht ungefähr von der Etsch bis an die Memel) hieß es für mich: Umdenken. Hatte ich meinen bescheidenen Lebensunterhalt bislang mit schnodderigem teils halblinken, teils halbmachomäßigen, jedenfalls opportunistisch an der Höhe des Honorars orientiertem Provo-Geschreibsel (s. o.) finanziert, stellte mich die neue Sittenpolizei wie die meisten anderen Kulturjournalistinnen und -journalisten vor die Wahl, mich integrieren oder vaporisieren (erinnern Sie sich?) zu lassen. Natürlich wählte ich Ersteres.
Weil sich bei mir angeblich aus Altersgründen eine generelle Genkosmetik nicht mehr lohne, landete ich gemeinsam mit einer Schar ehemaliger Kolleginnen und Kollegen, die ich aufgrund ihrer mangelnden humanistischen Grundausbildung früher nicht mal gegrüßt hätte, in einer stillgelegten Wolfsburger Volkswagen-Montagehalle. Die ursprünglich zur Kollektion von Elektromobilen konstruierten Roboter-Arme an den Fließbändern waren von einer nordkoreanischen Elektronik- und Fleischverarbeitungsfabrik notdürftig um ein paar tierärztliche chirurgische Instrumente ergänzt worden. Auf eine Art Palette geschnallt, durchrollte ich die Implementierungs-Stationen der reinen völkischen Vernunftsvermittlung, programmiert von dem bedeutenden Philosophen Marc Jongen. Weil selbst nach versuchter Löschung störender Hirninhalte durch Röntgen-Lobotomie die Speicherkapazität für die Aufnahme der genialen Visionen und damit verbundenen Arbeitsaufträge Jongens natürlich nicht ausreichten, bekam man Second-Hand-Speicherchips zumeist aus verschrotteten Haushaltsgeräten eingepflanzt. Dann ging es an die Info- und Moral-Abfüllung für Boulevard-Feuilletonisten via USB-Kabel durch die Fontanelle.
„Präambel: Eine grundsätzliche Neuausrichtung der Kulturpolitik mit dem Ziel der Verteidigung der deutschen Identität ist Zentrum unseres Kulturverständnisses. Die dekadente Reduktion kultureller Identität auf eine Schuld- und Schamkultur in der Vergangenheit ist durch positive Bezugspunkte kultureller germanischer Identität zu korrigieren, um die aktive Aneignung kultureller Traditionen und identitätsstiftender Werte wieder in den Vordergrund zu rücken.
Erstens: Grundlagenwissen Architektur. Vorbilder: Kolosseum Rom, Kreml Moskau, Reichsparteitags-Gelände Nürnberg, Plattenbausiedlung Berlin-Marzahn, Erholungszentrum Prora Rügen, Musikhochschule München … (und Hundert weitere Kulturbauten samt Plänen). – Entartet: Gründerzeit-Bauten in germanischen Siedlungen, überflüssiges barockes Geschnörksel, Elbphilharmonie Hamburg, unmenschliche Schuhschachtel-Ästhetik des Bauhaus-Baustils … usw. Zweitens: Bildende Kunst, Malerei, Filmemacher: Plastiken und Bilder von Arno Breker, Adolf Wamper, Adolf Hitler, Richard Scheibe. Entartet: Picasso, Niki de St. Phalle, Gerhard Richter, Jeff Koons … Lichtbild-Kunst: Luis Trenker, Leni Riefenstahl, Veit Relin … Entartet: Walt Disney, Rainer Werner Fassbinder, Sergio Leone usw. Drittens: Musik. Richard Strauss, Sergej Prokoff … Ende der Speicherkapazität … Ende der Speicherkapazität … Ende der …“
So weit also reicht meine aktuelle kulturelle Bildung. Wie zu erwarten erfolgte eine strenge Prüfung durch die germanische Sittenpolizei auf Eignung wenigstens als Unterhalter im Altersheim. „Sing mal ein Lied“ – forderte Oberkunst-Gauleiter Bernd Baumann. Ich räusperte mich und begann – weil mein Kopf ja zu wenig Platz für die gewünschte neue Musik hatte – mit einem Erinnerungsrest aus verbliebenen Fasern des vorderen Stirnlappens: „Hänschen klein“. „Schluss. Grauenhaft“, rief Baumann und forderte ein Beispiel völkischer Literatur. Dafür hatte mein Speicherplatz auch nicht gereicht. Dank eines neuronalen Kurzschlusses fand ich auf einem Chip, der früher wohl mal in einem Thermomix steckte, Rettendes: „Rosinen, Zitronat, Orangeat, Mandeln, Rum und Wasser in einer Schüssel verrühren und zugedeckt bei Zimmertemperatur durchziehen lassen. 75 g Zucker 10 Sek/Stufe 8 pulverisieren und umfüllen …“ „Schluss, aus, demontieren“ – hörte ich Baumann noch brüllen. Dann wurde es dunkel um mich.
Aus einer Art schwarzem Starrkrampf erwache ich. Ich liege auf einem OP-Tisch, sehe ein mir bekanntes Gesicht. Sarah Wagenknecht ohne Mundschutz. Wut überfällt mich. Ich soll was sagen, was Persönliches, ein finaler Check, also bitte …
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur
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