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Foto: Martin Hufner
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„There’s no such thing as silence“

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Nachschlag 2020/12
Publikationsdatum
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Angesichts des abermalig angeordneten Herunterfahrens des Kulturbetriebs denkt gegenwärtig so manche*r an John Cages 4'33". Die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko etwa läuteten damit Ende Oktober den gegenwärtigen Lockdown mit großer Geste ein, während der Stadtsingechor zu Halle das Werk bereits im Laufe des letzteren auf Youtube, nun ja: bescheidener und womöglich anrührender einspielte.

So ist es auch angebracht, an den Abend Ende August 1952 zu erinnern, als David Tudor das Podium der Maverick Concert Hall in Woodstock betrat, um das Stück als dreiteiliges Klavierwerk uraufzuführen, welches ausdrücklich auch für beliebige andere Instrumente und beliebige Dauern geeignet ist. Wobei gerade letzteres mit bitterer Ironie an die unabsehbaren Dauern von Lockdowns gemahnen kann. Aber darum geht es nicht.

Tudor trat seinerzeit auf, setzte sich ans Klavier und fing an – die Vortragsanweisung heißt jedesmal „Tacet“ –, indem er die Tasten schloss. Und das wiederholte sich noch zwei Mal. Satzanfang, Deckel zu; Satzende, Deckel auf. Ansonsten saß er da und tat nichts. Nicht, dass er tat, als täte er nichts. Er tat, bis auf die Stoppuhr zu bedienen, tatsächlich gar nichts, was auf einer Bühne, wo auch das allergeringste Vorkommnis schnell spektakulär gerät, wohl mit das Schwerste sein mag. Der Intentionalität von Musik begegneten Tudor und Cage so mit der Haltung einer universellen Absichtslosigkeit. Die Dinge schlicht sein lassen – für eine Zeit lang. Die Klänge, die Menschen und so weiter. Und derart am Nullpunkt von Performativität angelangt, beginnt mit Cage die Welt zu rauschen. Stille gibt es nicht. Atmen, Publikumsgeräusche, Atmosphäre, der eigene Blutkreislauf ebenso wie die eigenen Wünsche und Vorstellungen und Erinnerungen an die Musiken, die man so in sich hat, und so weiter.

Merkwürdigerweise ereignet sich Ähnliches am entgegengesetzten Pol des kunst- und musiksatten letzten Jahrhunderts, im absichtsvollen Getöse von Strauss’ „Elektra“. Auf die Frage der Schwester, ob sie den Jubel um die Rückkehr des Bruders nicht wahrnehme, antwortet Elektra: „Ob ich nicht höre? Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir.“

Und mehr bei Elektra, am Pol des unbedingten Kunstwollens lag das, was – aus ihm kommend – Kirill Petrenko suggestiv in Einsätze ans Orchester übertrug. Zum ersten so etwas wie Verzweiflung, zum zweiten Sehnen und abschließend zage Entschlossenheit andeutend, spielte er. Vielleicht hätte man ihm zu einem anderen Werk raten können, zu Dieter Schnebels „Nostalgie“, diesem großen Solo für einen Dirigenten, der ganz allein mit ebenso ausufernder wie ausgefeilter Gestik die unhörbaren verwehten Klänge des Orchesterzeitalters beschwört. Dennoch: Auch dieses in seiner Art rührende produktive Missverstehen von Cages Absichtslosigkeit ließ aus dem stummen und regungslosen Orchester Unerhörtes entstehen. So etwas wie eine dreisätzige Symphonie, wohl weniger nach der Art von Mozarts „Prager“, eher nach der in d-Moll von César Franck beispielsweise oder ...

Ja, um die zurzeit verwehrten und verwehten Stimmen des Unerhörten geht es gegenwärtig in gleichem Maße, wie um die derzeitigen und künftigen Bedingungen von Musik und ihren Menschen. Im dem völlig berechtigten und notwendigen Lärmschlagen um die schiere Existenz ist dem Schweigen und dem Verklungenen ausreichend Raum zu geben. Das mag zwar paradox klingen, ist aber wesentlich im öffentlich getragenen Musikbetrieb. Weil Musik letzten Endes eben keine Dienstleistung, keine kulturwirtschaftliche Ware oder einen börsennotierbaren Wert darstellt. Solcherlei Kalküle bedienen andere Gewerke besser. Gegenstand wie Gegenwert von Musik liegen jenseits des wiewohl notwendigen Performativen, weil sie dessen Ort und Zeit zuverlässig verlässt – ob in Woodstock, Berlin, Halle oder anderswo.

Derlei Existenzbedingungen einmal außen vor gelassen: Was fehlt also zurzeit? Bis auf das Performative eigentlich nichts. Kunst als ein Akt der Sublimierung von Trauer über Abwesenheit beispielsweise Gottes, der „Fernen Geliebten“ oder schlicht des „Passato“, des Vergangenen (Traviata), sie bildet ab und zehrt zugleich von der Leerstelle in uns, den Hörenden und Sehenden. Dieser Sehnsuchts(h)ort ist, ganz absichts- und verwertungslos, dem Betrieb, wann und wie er dann wieder losgeht, das wahre Kapital.

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