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Til(l)t

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Ferchows Fenstersturz 2020/05
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Sollten Sie zur Risikogruppe gehören, erinnern Sie sich sicher an Szenen wie diese: Ihr oder gerne auch „ein“ Kind kritzelt im Kindergarten ein glückliches Familienbild: Papa und Mama, beide ohne Hals, scheinen sich nicht so gut zu verstehen. Zwischen beiden liegen Blümchen und ein Hammer. Mama weint, ist irgendwie nicht mehr komplett. Etwas abseits am Bild: Schwester und Bruder. Eng umschlungen, mit rötlichen Tupfern übersehen. Die Erzieherin weint, als sie das Bild den Eltern zeigt. Zur gleichen Zeit umstellt eine GSG 9-Einheit die Kita. Hubschrauber kreisen über dem Krisengebiet. Psychologen steigen aus schwarzen Limousinen. In Amerika besteigen Profiler Learjets, Armin Laschet gründet eine Task Force und Christian Lindner fordert einen „smarten“ Umgang mit der Situation. Und Arbeitskollegen fällt plötzlich ein, dass der Familienvater schon immer komisch war, „der aß sein Mettbrötchen immer mit scharfem Senf“.

Tja. Und jetzt zur Popkultur. Wem fällt eigentlich auf, dass Rammstein- Sänger Till Lindemann sein Mettbrötchen schon immer mit scharfem Senf aß? Und dass der Senf aus der niemals leer werdenden Tube mit der Aufschrift „künstlerische Freiheit“ gedrückt wird. Demokratie bedeutet auch, Rammstein und Lindemann auszuhalten. Ihre teils widerwärtigen textlichen und visuellen Provoka­tionen. Erschaffen auf Basis der Demokratie. Geschützt vom mollig warmen Deckmäntelchen der Kunstfreiheit, vielleicht der Meinungsfreiheit. Okay, kannte die Band vorher nicht. Als sie noch zur SBZ gehörten.

Nun kredenzt uns Lindemann ein neues Mettbrötchen in Form eines Gedichtbandes. Gar nicht so hermetisch dichtet er über Vergewaltigungsfantasien: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. (…) Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst. (…) Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas). Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.”  Leider kommt diesmal kein Hubschrauber. Keine GSG 9. Kein Profiler.

Dafür ist sich Verlagspraktikant Helge Machow (KiWi) nicht zu schade, den Streber für Lindemann zu spielen: „Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ,lyrischen Ich’ mit dem Autor Till Lindemann. Die Differenz zwischen lyrischem Ich und Autor ist aber konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik wie von Literatur allgemein und gilt für alle Gedichte des Bandes wie für Lyrik überhaupt“. Na dann, liebe Kultusministerkonferenz, solche Kenntnisse sollten doch in diesen Zeiten für ein Notabitur reichen. Kann man Verlagschef werden mit. Aber wer umarmt endlich Till Lindemann? Wer schenkt ihm Aufmerksamkeit? 30 Jahre nach dem Mauerfall übergießt sich der Mann immer noch mit Spiritus, geht in Flammen auf, verkleidet sich als KZ-Häftling und rollt als Langzeitfolge das „R“ im Diktator- Sprech. Leider niemand.

Denn der demokratische Businessplan trug schon vor 30 Jahren die Überschrift: „Profit durch Provokation“. Nie „Verantwortung“.

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