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Überdruss

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Über die neue Musik bricht periodisch eine Art Stimmung herein, die man als Überdruss am Bestehenden bezeichnen könnte. Das gehört zur Geisteshaltung der Moderne, zu deren Selbstverständnis ja gerade die kontinuierliche Kritik am Überlieferten zählt. Mit lauten Rufen wird dann jeweils das Alte für tot erklärt und mittels Manifesten und den zugehörigen Werken das neue Handlungsmodell propagiert – ein „Paradigmenwechsel“, wie es mit verkürztem Rekurs auf Thomas Kuhn dann heißt. 1951 konstatierte Pierre Boulez polemisch: Schönberg est mort! In den siebziger Jahren erklärten die jungen Ausdrucksmusiker die seriellen Überväter als tot und schrieben neotonale Orchesterstücke. Und in seiner politischen Liedersammlung „Voices“ vertonte Hans Werner Henze 1973 ein Gedicht von Michalis Katsaros, in dem es heißt: „Schluss mit dem Kammerensemble, Schluss mit der Impotenz auf dem Protestfestival, Schluss mit der Weltsicherheit und mit allen weitblickenden Führern, Schluss mit dem Ausländeramt und selbstverständlich mit mir, der euch dies alles erzählt“. Das ist dann wohl die radikalste Variante.

Über die neue Musik bricht periodisch eine Art Stimmung herein, die man als Überdruss am Bestehenden bezeichnen könnte. Das gehört zur Geisteshaltung der Moderne, zu deren Selbstverständnis ja gerade die kontinuierliche Kritik am Überlieferten zählt. Mit lauten Rufen wird dann jeweils das Alte für tot erklärt und mittels Manifesten und den zugehörigen Werken das neue Handlungsmodell propagiert – ein „Paradigmenwechsel“, wie es mit verkürztem Rekurs auf Thomas Kuhn dann heißt. 1951 konstatierte Pierre Boulez polemisch: Schönberg est mort! In den siebziger Jahren erklärten die jungen Ausdrucksmusiker die seriellen Überväter als tot und schrieben neotonale Orchesterstücke. Und in seiner politischen Liedersammlung „Voices“ vertonte Hans Werner Henze 1973 ein Gedicht von Michalis Katsaros, in dem es heißt: „Schluss mit dem Kammerensemble, Schluss mit der Impotenz auf dem Protestfestival, Schluss mit der Weltsicherheit und mit allen weitblickenden Führern, Schluss mit dem Ausländeramt und selbstverständlich mit mir, der euch dies alles erzählt“. Das ist dann wohl die radikalste Variante. Auch heute scheinen wir uns wieder in einer Phase zu befinden, in der ein negatorischer Impuls um sich greift. Er artikuliert sich aber nicht mehr so programmatisch wie in den geschilderten Fällen. Die Situation ist heute auch nicht so übersichtlich, dass eine einzige zugespitzte Diagnose den Nagel auf den Kopf treffen würde. Es handelt sich mehr um ein ebenso vielstimmiges wie diffuses Unbehagen – eben eine (Miss-)Stimmung, die vielerlei Ansatzpunkte und vielleicht noch mehr Ursachen hat. Inwieweit sie mit dem allgemeinen gesellschaftlich-politischen Unbehagen in Deutschland zusammenhängt, das angesichts der vielen ungelösten, auf die lange Bank geschobenen Probleme heute immer breitere Kreise zieht, sei dahingestellt. Unverkennbar ist jedoch, dass sich diese Stimmung an einem musikalischen Zustand entzündet, der als Status quo empfunden wird und den viele mit einer Art Befreiungsschlag loswerden möchten.

Wie in einem Brennpunkt hat sich das nun auch wieder in Donaueschingen gezeigt, wo Armin Köhler seit einigen Jahren eine Gratwanderung zwischen dem traditionellen Begriff von Komposition, Improvisation und Installation macht und damit die gegenwärtige musikalische Problematik ins grelle Rampenlicht rückt. Neben den üblichen Orchesterwerken gab es diesmal Noise-Orgien von Zoro Babels E-Gitarrenband und die dröhnenden drum loops und Computerklänge des Jazzkonzerts mit Wolfgang Mitterer. Es gab Teile des Publikums, die das sichtlich genossen. Endlich Musik, die in den Bauch geht, nicht nur diese verkopfte Avantgarde! Das pralle Leben tobt in Donaueschingen!

Eine logische Reaktion bei einem Festival, das sich in den letzten Jahren neuen Publikumsschichten geöffnet hat und diese nun auch bedienen will. Ein Durch- und Aufmischen der stets leicht esoterischen neuen Musik mit Klängen der etwas konkreteren Art kann auch gewiss nicht schaden. Erstaunlich ist aber die Sehnsucht mancher Insider – Komponisten und Medienleute – nach einer Ablösung der „altmodischen“ komponierten Musik, die zugegebenermaßen mühevoll herzustellen ist, durch eine andere, die, weil sie den Hörgewohnheiten von Popkonzerten, Disco und Clubszene entgegenkommt, als zeitgemäßer und publikumsnäher gilt. Nachdem die Popkultur nach den elektronischen Medien auch die Feuilletons erobert hat, ist sie nun auf dem Vormarsch in die bisher als sakrosankt betrachteten Gefilde der Hochkultur. Dazu gehören die Berliner Philharmoniker ebenso wie das Donaueschinger Festival. Das geht nicht ohne Konflikte ab, und es stellt sich die Frage, wie weit diese neue Variante von Crossover gehen soll. Soll man bedenkenlos den Widerstand aufgeben, E und U im Zeichen der neuen Medien vermischen und, wie es der frühere Kulturstaatsminister Nida-Rümelin gefordert hat, Popmusik in den Schulen lehren? Soll dem munteren Selbermachen mit Scratching und Software der Vorrang gegeben werden vor dem Notenlesen? Oder soll man festhalten an den überlieferten Kategorien einer Musik, die sich seit über einem Jahrtausend wesentlich durch die Kodifizierung mittels Schrift entwickelt hat?

Bei den popkulturellen Revierkämpfen um größere Öffentlichkeit ist auch immer das Argument der Demokratie zu hören: Neue Musik, die an ihrer Tradition der Schriftlichkeit festhält, ist elitär, weltfremd und ergo antidemokratisch; neue Musik, die durchs pure Hören fesselt und weiter keine Geheimnisse zum Entschlüsseln bereithält, ist massenfreundlich, ergo demokratisch. Unter statistischen Gesichtspunkten mag das stimmen. Die Bildzeitung ist in dieser Hinsicht auch demokratisch, denn sie wird von jedermann „verstanden“ und ist obendrein billiger als die anstrengenden Blätter, die mit allerlei Detailanalysen vom Lesenden eine Eigenleistung verlangen.

Doch hat Demokratie entscheidend mit Eigenaktivität zu tun. Anders als durch Taten Einzelner, die Auswirkungen auf die Masse hatten, wäre nämlich die bürgerliche Gesellschaftsform nie entstanden. Das gilt auch für Solidarnosc und Montagsdemos, Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. Wenn alle nur bequem gewartet hätten, dass irgendeine Instanz ihnen die Revolution serviert, herrschte heute in Deutschland noch immer der Obrigkeitsstaat. Aber vielleicht kommt der ja wieder, wenn es so weiter geht wie heute.

Gibt es hier etwa ein Bindeglied zwischen der Missstimmung in der neuen Musik und der Missstimmung in der Gesellschaft? Wollen alle immer nur ihren schnellen Spaß haben, ohne selbst geistig etwas beizusteuern? Hier die mal smarte, mal fetzige computergestützte Musik, die die Wahrnehmung angenehm kitzelt und keine weiteren Fragen aufwirft, dort das System Kohl/Schröder, das der Bevölkerung hier zu Lande seit zwanzig Jahren die Leichtigkeit des Seins vormacht und damit den allgemeinen Niedergang erfolgreich verschleiert. Popmusik an der Schule wäre eine weitere, vom Staatsphilosophen verschriebene Traumpille in dieser Politik, die in viel gravierenderem Maß Kulturpolitik ist, als es den Anschein macht.
Denn nicht erst seit dem 11.9. kommt es der Politik zunehmend auf die Konditionierung des Bewusstseins an. Im Widerstand gegen diese subtilen Strategien von Big Brother kommt der neuen Musik eine kleine, aber doch nicht zu unterschätzende Funktion zu. Sie kann durch ihre Klänge zum Mitdenken, Mitfühlen und damit zur Differenzierung von Wahrnehmung und Reflexion anregen. Sie kann aber auch Nachdenklichkeit platt machen und zynisches Einverständnis fördern, sie kann Bewusstsein erhellen oder vernebeln. Periodischer Überdruss am Bestehenden ist notwendig. Wenn er sich aber gegen die Substanz der neuen Musik selbst richtet, wird diese vollends überflüssig. Und mit ihr nebenbei auch ihre Festivals.

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