Mein Unterrichtstag beginnt – wie jede Woche seit einiger Zeit – am PC. Einen Tag vorher hat mein Student Maksim über unsere Klassen-Whatsapp-Gruppe die Kommilitonen aufgefordert, ihre Wunschtermine anzugeben. So habe ich nun eine Liste der „Kandidaten“, sauber gegliedert nach Uhrzeiten und jeweiliger Erreichbarkeit per Skype, Facetime oder Messenger.
Meine Studenten sind nicht alle in München sondern über den Planeten verteilt – einige sind kurz vor den erweiterten Reisebeschränkungen in ihre Heimatländer aufgebrochen, um bei ihren Familien zu sein, andere sind in Deutschland geblieben, zum Beispiel mein brasilianischer Student Caio, der die brasilianischen (wenigen) Corona-Maßnahmen sehr kritisch sieht und sich um seine nicht sehr wohlhabende Familie sorgt.
Ich frage ihn, was er am meisten vermisst. „Ins Museum zu gehen“ ist seine überraschende Antwort.
An diesem Donnerstag wollen – wie an den anderen Donnerstagen auch – nicht alle der Studenten den Unterricht wahrnehmen. Meine ungarische Studentin Abigel ist bei ihrer Familie. Sie organisiert eine Facebookgruppe für junge Solisten auf Facebook, jeden Tag wird jemand vorgestellt mit einem Video. Sie will etwas „Konstruktives“ tun und ihren „Kommilitonen helfen“. Sie nutzt die Auszeit, um an einem Orchesterstück zu arbeiten, die Ruhe tut sowohl ihr als auch dem Stück sehr gut. Sie vermisst das Reisen am meisten.
Auch mein Student Fabian ist sehr fleißig, in der Selbstisolation bei den Eltern in Ostdeutschland. Er nutzt die Zeit, um Harry Lehmanns philosophische Werke kritisch zu lesen und schreibt Variationen über plattdeutsche Volkslieder für Orchester. Vor dem PC sitzt er in seinem Jugendzimmer, kaum ist die Teenagerzeit vorbei, muss er wieder dahin zurück.
Maksim arbeitet – live aus München zugeschaltet - ebenfalls an einem Orchesterstück, darunter scheint bei Corona nichts zu gehen. Es wird ein richtiges „symphonisches Poem“, mit süffigem Orchesterklang. Ihm fehlt es am meisten, „lustige Sachen anzuziehen“ und draußen herumzulaufen.
Torbjorn, der Norweger, ist in Schweden, wo die Bestimmungen im Vergleich zu den anderen Ländern noch recht locker sind. Er sagt, dass Computerspiele am meisten das Potenzial haben, ihn abzulenken, und dass er Angst hat, dieser Sucht wieder zu verfallen. Die Isolation macht ihm als ohnehin eher introvertierten Menschen wenig zu schaffen und er arbeitet an einem längeren Kammermusikwerk, das norwegische Folklore verwendet.
Carlotta schaltet sich per Telefon zu. Sie ist momentan mehr mit der Neuordnung ihres Lebens als mit Musik beschäftigt, ich versuche, sie so gut wie möglich in dieser schwierigen Zeit zu beraten. Sie ist bei ihren Eltern in NRW. Was sie gerade nervt: ihre Großmutter hätte Witz-Videos von ihr im Internet für bare Münze genommen und sei nun „sehr besorgt“ um sie.
Hao, der Chinese, ist schon seit einigen Wochen wieder in Deutschland, nachdem er seine Eltern zuhause besucht hat. China hätte die Sache „nun im Griff“ meint er. Wenn ich Atemmasken bräuchte, könnte er mir welche besorgen, er hätte da eine „gute Quelle“. Was man Trump besser nicht wissen lassen sollte, er käme bestimmt auf dumme Gedanken.
Zuletzt: mein Student Ivan, aus Moskau. Gleich nach Beginn unserer Videokonferenz beginnt er sehr trocken zu husten, seine Augen sind stark gerötet und er hat sichtlich Fieber. „Keine Sorge, ich habe kein Corona“ sagt er. Wie er sich da so sicher sein könnte, frage ich.
Ivan zuckt die Schultern. Dann erzählt er mir, dass er gerade seinen Vater besucht, der nach schwerer OP aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Und das ist der Moment, in dem die verrückte Realität, in der wir uns alle momentan befinden, sich endgültig dem Unterricht aufdrängt: ich mache mir Sorgen.