„Wem sind nicht auch die vier Jahreszeiten eines Vivaldi bekannt,“ schrieb 1740 Johann Adolph Scheibe, einer der ersten Musikjournalisten Deutschlands, in seiner Zeitschrift „Der Critische Musicus“. Das gilt auch heute noch. Denn einer der ersten Journalistinnen Deutschlands, der WDR-Hörfunkdirektorin Valerie Weber sind sie ebenfalls bekannt.
Natürlich, möchte man sagen, denn der WDR war schließlich auch der Sender, der von 2012 an über vier Jahre lang die ARD mit dreißig Folgen der Wiwaldi-Show belieferte, einer Sendung, bei der eine Hundehandpuppe im stark verdünnten Harald-Schmidt-Stil Celebritäten der Unterhaltungskultur interviewt. Eine Sternstunde des gebührenfinanzierten Fernsehens!
Da lag es natürlich nahe, dass Valerie Weber der nordrhein-westfälischen Schulministerin Sylvia Löhrmann Ende Oktober eine DVD mit der Abschluss-Show des Vivaldi-Experiments überreichte, mit dem der WDR nach Dvoráks Neuer-Welt-Symphonie vom NDR (2014) und Gershwins „Rhapsody in Blue“ vom BR (2015) die Reihe „Ein ARD-Konzert macht Schule“ dieses Jahr fortsetzte. Die DVD, ein Video-Zusammenschnitt, zum Beispiel zwecks Kompensation von Unterrichtsausfall. Was der WDR tags zuvor auf Facebook wie folgt anpries: „NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann wird begeistert sein, wenn ihr den Schulstart nach den Ferien mit Musikunterricht beginnt: 45 Minuten Vivaldi-Experiment mit Klassik und Rap von MoTrip. Glaubt ihr nicht? Dann guckt mal um 11.15 Uhr hier vorbei!“ Dass die auf facebook.com/vivaldiexperiment vom WDR derart angeonkelten allein 2,5 Millionen NRW-Schüler nach den Herbstferien sich dann ihrerseits für dieses Ereignis begeisterten, erschließt sich aus der Handvoll Shares und Likes nicht unbedingt. Eher schon kam Begeisterung auf in den wenigen konkreten Schulprojekten, die um Vivaldi herum die ARD-Klangkörper live und vor Ort mit Schulen im Vorfeld des Experiments von Sylt bis zum Unterallgäu veranstalteten.
Und so schien das Vivaldi-Experiment in seiner gesamten und besonders der abschließenden Präsentation weniger musikpädagogisch als strategisch durchdacht, so richtig druchkonzipiert und -kalkuliert, um ein wenig Relevanz für die alte Klassik und vor allem viel Aufmerksamkeit für die alten öffentlich-rechtlichen Medien zu – ja, so sagt man das heute: zu generieren. Die Aufgabe, deren inhaltsfreies Styling geradewegs nach den Herzen von Geschäftsführungen gemacht scheint, hieß wohl, auf allen verfügbaren Kanälen Medienbindung über Bildung zu betreiben. Die Mittel: ein, wie gesagt, bekanntes Werk der Musikgeschichte, das als Evergreen zudem Niederschwelligkeit vorgaukelt; dazu Rap als gefügig gemachter Ausdruck von Jugendkultur und ein bekannter Rapper, MoTrip, der Melodiefetzen aus den ersten vier der zwölf Concerti aus „Il cimento dell’armonia e dell’invenzione“ in einer Rapnummer crossovert, zu der wiederum, quasi als hundertfältiger virtueller Background Chorus, Jugendliche ihrerseits Bild- und Tonschnipsel beitragen können; mit dabei das hauseigene Unterhaltungsorchester, dessen mittlerweile verschwommenes Profil mit diesem Projekt einen scharfen Schnitt verpasst bekommt; und über allem eine ebenso herzerweichende wie -erwärmende Geschichte vom rastlosen Schöpfer und seiner Geigenschülerin, der Waise Anna Maria dal Violin, die zwar ihre Zurichtung in Ermangelung eines anderen Namens im selben tragen musste, die aber erfahren durfte, so O-Ton WDR, „was Musik im Leben der Menschen bewirken kann“, den „Vivaldi-Effekt“! Ausdruck.
Schönheit. Selbstverwirklichung … Als krönenden Abschluss dann das Abschlusskonzert live in der Kölner Philharmonie unter dort eigens platzierten Kronleuchtern (!?), live im Stream, live in den Kulturwellen und den dritten TV-Programmen. Valerie Weber: „Das ‚Vivaldi-Experiment‘ erfüllt beispielhaft den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag. Es freut mich sehr, dass wir Schulen eine digitale Musikstunde zur Verfügung stellen können.“ Wobei Bildung kurzerhand durch Medienbindung ersetzt wurde.
Dass für Vivaldi und seine Schülerin die Musik sehr hartes Brot war und der Erfolg ihnen wenig einbrachte; dass seine Musik, die wir haben, und ihre Kunst, die wir nur vom Hörensagen kennen, komplex, schwierig und aller Aufmerksamkeit wert sind, davon kein Ton im repräsentativ bunten Geschenkpaket. Und, außer im herunterzuladenden überschaubaren Unterrichtsmaterial der engagierten WDR-Konzertvermittler, auch kein Wort davon. Dafür aber die mediale Illusion der totalen Verfügbarkeit kultureller Güter, ohne die Mühen ihres nicht unbedingt praktischen, auf jeden Fall aber gedanklichen Nachvollzugs auf sich nehmen zu müssen. Und so gerät der beschworene „Vivaldi-Effekt“ schwuppdiwupp zum Wiwaldi-Affekt: Hol‘ dir die Geige! Schnapp‘ dir den Vivaldi! Grab ’em!