Da sich seit drei Monaten offenbar niemand mehr über die Beckmesser-Kolumne geärgert hat, sei das Folgende als Versuch gedacht, diesem beunruhigenden Zustand etwas abzuhelfen. Willkommener Anlass ist eine Repertoire-Inszenierung der „Arabella“ in Zürich, die nun mit der umjubelten Renée Fleming in der Hauptrolle wieder auf die Bühne kam. Die bejahrte Regie von Götz Friedrich ist von solid-realistischem Zuschnitt und hat sich über die Jahre hinweg überraschend gut gehalten.
Die psychologisch labilen Befindlichkeiten der zerfallenden Wiener Gesellschaft um 1860, die Strauss und sein Librettist Hofmannsthal in diesem Sittenbild schildern, hat Friedrich mit präzisem Blick erfasst. Seine Regie denunziert die Figuren nicht, sondern zeigt ihre gefährdete Gefühlswelt als letzten Ort, wo reine Liebe und Menschlichkeit noch möglich sind. Sich gegenseitig annehmen und aneinander glauben, verspricht sich das Liebespaar Arabella/Mandryka am Schluss. Es ist der Rettungsanker für ihre beinahe zerbrochene Beziehung, und nach den vorangegangenen Turbulenzen kehrt wieder Hoffnung ein. Wir sind gerade noch einmal davongekommen. Ein typischer Opernschluss? Gewiss, sagt da der aufgeklärte intellektuelle Kleinbürger von heute mit milder Ironie, aber darüber sind wir doch längst hinaus. Was interessiert mich diese vorgestrige Story mit der Gefühlswelt einer untergehenden Aristokratie? Und Militantere, falls sie in die Oper gingen, würden sich über die Handlung vermutlich schwarz ärgern. Widerspricht hier doch alles den Grundsätzen der Gleichberechtigung der Geschlechter, wie sie heute verkündet, eingeklagt und in Gesetze gegossen werden.
Einige Kostproben gefällig? Arabella für sich, in Vorahnung: „Aber der Richtige – wenn’s einen gibt für mich auf dieser Welt – der wird einmal dastehn ... und keine Zweifel werden sein und keine Fragen, und selig werd’ ich sein und gehorsam wie ein Kind.“ Mandryka über seine baldige Verbindung mit Arabella: „Es handelt sich für mich um etwas Heiliges.“ Arabella zu Mandryka: „Und du wirst mein Gebieter sein, und ich dir untertan. Dein Haus wird mein Haus sein, in deinem Grab will ich mit dir begraben sein – so gebe ich mich dir auf Zeit und Ewigkeit.“
Aber nun reicht’s! Hier wird doch hemmungslos reaktionäres Gedankengut gepredigt! Die Frau am Herd, und das im Zeitalter des Krippenausbaus! Noch nie was gehört von mehrfach codierten Beziehungen und Lebensabschnitts-partnern? Frauengehorsam und Ewigkeit! Und dann die Uraufführung, Dresden 1933, schon nach der faschistischen Machtergreifung: typisch für diesen Opportunisten! Strauss, setzen, sechs! (Hofmannsthal muss nur zehn Kniebeugen machen, der ist schon 1929 gestorben.)
Aus der Sicht heutiger EU-Normen mag das zutreffen. Nur kümmert sich leider das Kunstwerk nicht darum. Die Musik hebt den psychologisch raffiniert gebauten Text in eine Kunsthöhe, wo solche gesellschaftsbezogenen Einwände nicht nur wirkungslos verpuffen, sondern wo auch das, wogegen sie sich richten, wieder völlig überzeugend daherkommt. Ein richtiger Akkord, eine melodische Wendung, und alle mühsam verdrängten Empfindungen werden im Nu wieder lebendig. Die Tabus schmelzen dahin, das Publikum erkennt in der Musik seine eigenen heimlichen Sehnsüchte, und die Suggestion der reinen Liebe, wie sie sich in der Figur der Arabella verkörpert, lässt alle kritischen Theorien alt aussehen. So einfach ist das manchmal. Da kann man mit Mutter Adelaide nur noch sagen: Oh Theodor, welch eine Wendung!