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Wer hat Angst vor Virginia Versatzstück?

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Beim Lesen der jüngsten Ergüsse unserer deutschen Musikkritiker kommt einem schon manchmal der Gedanke, ob die Verwendung des Wortes „Versatzstück“ ökonomische Gründe hat – würde man es nämlich verbieten, hätten viele Kritiken nur die halbe Länge, und man müsste den Rest wieder mit Adornozitaten auffüllen … wenn die Vorräte nicht langsam zur Neige gehen würden!

Natürlich ist „Versatzstück“ nur ein anderes Wort für das, was der Musikkritiker Hänschen Neu vormals gerne als „postmoderne Beliebigkeit“ abgegeißelt hat. Hierbei gelingt ihm bei seiner eifrigen Versatzstückdeklarierung das schriftliche Äquivalent des doppelten Ritt- oder auch Schittbergers: Zuerst einmal kann er zeigen, dass er tatsächlich in der Lage war, ein musikalisches Ereignis korrekt zu erkennen und zu benennen – bravo, gut gemacht! Nun gut, musikalische Fähigkeiten können ja bei mangelnder Verwendung langsam verkümmern, man muss sich ihrer also wenigstens ab und zu mal vergewissern. Zweitens kann er sich quasi en passant herablassend darüber mokieren, wie bäh es doch ist, wenn der Hörer plötzlich etwas bemerkt, das – indem es einen Bezug zu einer schon existierenden musikalischen Sprache herstellt – aus dem sonst vorherrschenden Anonymgeschrubbel hervorsticht. Man möge meinen, dass das erstrebenswert sein könnte, schließlich schreiben Schriftsteller ja auch nicht plötzlich in einer nur wenigen Eingeweihten bekannten Geheimsprache, wenn sie etwas Wichtiges zu erzählen haben. Aber nein – wenn es nach Hänschen Neu geht, will man natürlich viel lieber in gänzlich anonyme Klangwelten der Versatzstückvermeidung vordringen.

„Hinterfragen“ wir doch mal diesen seltsam unbeholfen aus der Theaterwelt entlehnten Begriff „Versatzstück“. Der bedeutet nämlich eigentlich „versetzbares Teil der Bühnenausstattung“, was natürlich nur schwer als eine negative Eigenschaft aufgefasst werden kann, denn der Bühnenausstattung Sinn und Zweck ist es ja, dass sie auch mal versetzt werden kann. Wäre ja sonst ein bisschen fad auf der Bühne, wenn alles immer stehen bliebe.

Mit „Versatzstück“ ist aber bei Hänschen Neu alles gemeint, was Anverwandlung von Bekanntem ist, Allusion, Variation, im schlechtesten Fall Klischee. Nun ist man die Neue-Musik-Klischees wie endlose Tonumkreisungen und ewige Ankündigungsgesten, denen dann nichts Geiles folgt, schon so leid, dass einem jedes, aber auch wirklich JEDES andere Klischee lieber wäre, aber das nur nebenbei.

Sicher kann Musik, die ewig schon Vorhandenes imitiert, auf Dauer nicht lebendig sein – sowohl ein Großteil der Neuen Musik wie auch der Popmusik sind ja das beste Beispiel dafür (gelegentlich zucken beide noch ein wenig, wenn man sie kneift). Aber wie lebendig ist Musik, die nur noch Kenntlichkeit vermeidet? Schauen wir auch nur allerflüchtigst in die Musikgeschichte, wird es uns schwer fallen, vollkommen isolierte und keimfreie Musikwelten zu finden. Alles ist ein ständiger Austausch, ein faszinierender Wirrwarr von einerseits abgenutzten wie vollkommen neuen Gesten, Imitationen, Parodien und Stilkopien, dies alles oft in einem einzigen Werk.

So fern von angewandter Sprachlichkeit ist die Musik ja nie: Bei oberflächlicher Betrachtung sind es Aneinanderreihungen von handelsüblichen Kadenzen, Volksmusikzitate und die Realisation von aus der Mode gekommenen Tänzen, wenn man genauer hinschaut sind es das d-moll-Klavierkonzert von Mozart, die „Winterreise“ von Schubert und die Cellosuiten von Bach. Die Kenntlichkeit der „Versatzstücke“, die all diesen Stücken innewohnt, ist nichts als ein Verständnisschlüssel zu Türen, die zu wirklich neuen Regionen führen. Das müssen die genannten Stücke nicht mehr beweisen, wenn man es aber heute auf diese Weise versuchen möchte, schreit immer irgendjemand das Unwort „Versatzstück“, kaum hat man es mal auch nur einen Takt lang gewagt, etwas Verständlicheres als „rpüpskumpfutzl“ zu komponieren.

Da offenbart sich die Willkür von Hänschen Neu: „Versatzstück“ ist nämlich für ihn nur das, was er als Fremdkörper deklariert und was seiner Meinung nach in einem „seriösen“ Neue-Musik-Kontext nichts zu suchen hat. Die selbst gehegten und gepflegten Versatzstücke (wie „rpüpskumpfutzel“, nicht zu verwechseln mit „rpäpskumpfutzel“) sind dagegen für ihn unsichtbar, quasi aus Berufsblindheit. Für ihn gibt es also ganz klar eine Trennung zwischen „guten“ und „bösen“ Versatzstücken. Erstere sind es zwar, aber angeblich nicht, letztere ganz gewiss. Kompliziert, kompliziert.

Aber Hänschen Neu, ist nicht alles, was auf dieser Erde so herumwimmelt, ein einziges Versatzgestückel der immer gleichen DNA, und sagt das nicht gleichzeitig absolut nichts über das Leben selber aus? Beschreibe ich ein Theaterstück, wenn ich allein darüber schreibe, welche Kulissen verwendet wurden? Gebe ich einen Film korrekt wieder, wenn ich allein über isolierte Szenen rede, aber nichts über die Handlung sage? Das Ganze ist die Summe seiner Teile, Freunde, in der Musik wie in jeder anderen Kunst auch. Wir lesen immer mehr darüber, wie die Oberfläche klang, was da so schwurbelte und wurbelte und was Hänschen Neu da so alles Tolles drin erkannt hat … aber immer weniger darüber, um was es eigentlich ging!

Über vermeintliche Versatzstücke zu reden heißt – ganz klar – weniger über Inhalte reden zu müssen. Würde ja auch mehr Arbeit machen.

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