Kein Zweifel, gegenwärtig läuft im Kultur- und Musikleben die Wertedebatte auf Hochtouren. Der Deutsche Musikrat veröffentlichte im Frühjahr ein Grünbuch mit dem Titel „Was ist uns die Musik wert? Öffentliche Förderung in der Diskussion“ inklusive eines Aufrufs zur öffentlichen Diskussion anhand eines üppigen Katalogs von 68 Fragen. Und auch die Hauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins am 13. und 14. Juni diesen Jahres, in deren Vorfeld der Mannheimer Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski ein medienwirksames Solo zum gleichen Thema hinlegte, widmete sich unter der Überschrift „Ökonomie und Kunst“ der in der Regel wachsenden Entwertung der letzteren zugunsten der ersteren. (Über das alles berichtete die nmz online.)
Knapp zwei Wochen später dann unterrichtete in einem sogenannten Berichterstattergespräch Christian Höppner, der Generalsekretär des Musikrates, die zuständigen Berichterstatter aller Bundestagsfraktionen von dieser Wertedebatte. So weit, so gut, und es ist mit Sicherheit an der Zeit, dass das Nachdenken über Sinn und Wert von Kultur und Musik nicht nur breitere Kreise zieht, sondern auch höhere erreicht – etwa die von Entscheidern.
Nur, um mit dem Musikrat zu beginnen, so weit und umarmend die Frage gestellt ist und mit der ersten Person Plural auch den Frager miteinbezieht, so schränkt der Untertitel diese wieder ein. Da es „nur“ um die öffentliche Förderung geht, müsste es dann doch „Was ist Euch die Musik wert?“ heißen. Und diese Figur, fast erinnert sie an den ausgestreckten Zeigefinger, bei dem drei Finger auf einen selbst weisen, scheint sich zu wiederholen, nicht nur im Fragekatalog des Musikrats, sondern allgemein. Selbstreflektion über den eigenen Umgang mit der Sache, die das „uns“ rechtfertigen würde, findet selten statt; konkrete Wertsetzungen, die in der Sache angelegt sind und nicht in deren umwegrationalen oder bildungspolitischen Anwendungen, findet man kaum. So versteht man auch den Vorwurf von Bühnenvereinspräsident Klaus Zehelein, die Macher selbst hätten sich ebenso am Wertverfall und -verlust aktiv beteiligt: „Es gibt Kulturmanager, auch manche gedankenlose Theaterleute, die beispielsweise nicht von ihrem Publikum sprechen, sondern von Kunden“, erklärt Zehelein, aber auch: „Diese Fehlentwicklung ist noch nicht so weit fortgeschritten, als dass wir auf verlorenem Posten stünden.“
Es ist bezeichnend, dass dieser spiritus rector der Frankfurter Gielen-Ära und, selbstredend, der eigenen Stuttgarter Ära gerade auch im eigenen Lager die stetige Verwandlung des Idealistischen ins Materialistische entdeckt. Gegen die Konsequenz und Hingabe, mit denen dort Inhalte gesetzt, Visionen, Träume und Traumata in Werke und musiktheatralische Erlebnisse umgesetzt wurden, fällt die heute gängige Kulturmanagement-Praxis mehr als deutlich ab. Programme werden häufig nicht aus der Kraft und dem Versprechen der Werke entwickelt, sondern anhand von quantifizierenden Kalkülen, die Erfolg bei Medien, Politik, Publikum oder auch nur Hipness versprechen. Und so bohrt man mit stets großem Aufwand und Hallo bemerkenswert dünne Bretter, wie etwa der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinem „Dvorák-Experiment“: ein zeitlich begrenztes Projekt, bei dem Schülerinnen und Schüler auf Dvoráks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ vorbereitet werden, um sie dann am Stichtag im September „live“ im Radio hören zu können. Erinnert man sich an die phänomenale Fülle von Gedanken und Eindrücken, die einst die Funk-Kollegs zur Kunst, Musik et alii über zahlreiche Zuhörer ausgossen, so nimmt sich bei diesem ARD-weiten „Konzert-macht-Schule“ der Inhalt, bei aller Liebe und Wertschätzung zur „Sinfonie aus der Neuen Welt“, nachgerade mickrig aus. Und warum überhaupt diese (zurecht populäre) Sinfonie, und nicht etwa das Jahrhundertwerk der sicher komplexeren „Eroica“?
Wer noch ein Beispiel haben möchte, wie tief die quantifizierenden Kalküle von Vorhersehbarkeit und Erfolgsplanung, die man bei Google, Amazon und Konsorten ansonsten gern verteufelt, ins Musikleben eingedrungen sind, schaue sich an, mit welchen Worten der ehrenwerte Schott Verlag seine lateinamerikanische Produktpallette anpreist: „Begeistern Sie sich auch für die Fußball-WM 2014 in Brasilien? Zum Mitfeiern haben wir hier einige Highlights der süd- und lateinamerikanischen Musik für Sie zusammengestellt.“ Das macht Lidl genauso, Schott jedoch täte nicht zuletzt angesichts der Unruhen um die WM-Stadien womöglich besser daran, aus dem eigenen Sortiment auch Henzes „El Cimarrón“, die „Autobiographie des geflohenen Sklaven Esteban Montejo“ zu bewerben. Das wenigstens wäre ein Zeichen, dass Musik dann doch auch einen anderen Wert hat, dass sie etwa vom Versprechen und Versagen eines besseren Lebens handelt und keine bloße Handelsware ist. Solange der Betrieb selbst nicht mehr eigene Werte setzt, solche jenseits von Tickets, Tantiemen und Einschaltquoten, wird er die kalkül-basierte Wertedebatte immer schon verloren haben.