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Werteverlust und Berufserinnerer

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Denn wie man sich erinnert, so lebt man. Und wir alle leben in einer Erinnerungskultur. Todestage und Geburtstage, Jubiläen und historische Ereignisse werden ans Tageslicht gezerrt (Schubert-, Mozart-, Eisler-, Gershwin-, Peter-und-der-Wolf-Jahr). Es werden Mahnungen ausgesprochen und Aktualitäten beschworen. Kurzum: Es wird an alles erinnert. Doch wie man auf die Geschichte blickt, so schaut sie zurück. Die Art und Weise der gegenwärtig praktizierten Erinnerungskultur ist fatal – und sie ist allemal fatalistisch. Man erinnert sich der Lebenden und gedenkt der Toten, zieht zu bestimmten Feierzeiten einen Schlußstrich oder eine Zwischenbilanz. Die Daten sind geradezu beliebig abrufbar (übrigens feiert der Kunststoff Vinyl heuer gerade seinen 70. Geburtstag, das Klettband wird 50). Aber diese Form des Erinnerns ist vor allem auch fatalistisch. Denn sie ist ein bloß äußerliches Kriterium. Damit dient die Erinnerungskultur als Rettungsanker in einer Kultur, die sich selbst keine Gewichte und keine Geschichte mehr zu verleihen weiß. Sie ist Kennzeichen einer gesellschaftlichen Verfassung, die mit Sinn- und Werteverlust kämpft. Den Begriff des Werteverlustes darf man ganz wörtlich nehmen: Wird an wen erinnert, so verkaufen sich Erinnerungsgegenstände (Souvenire) besonders gut – für die Plattenindustrie einer der wenigen Rettungsanker im harten Geschäft. Bei Rockröhre Tina Turner hat man allerdings ein Problem: Sie verschweigt ihr Geburtsdatum – rein finanziell gesehen für die Plattenfirma eine Katastrophe. Es handelt sich um eine konservative Strategie, die mit Denkmälern argumentiert und Hände über Kriegsgräbern schüttelt. Man wählt den einfachsten und ertragreichsten Weg, um Menschen an Erinnerungen zu binden. An Stelle von Erfahrung tritt Verdinglichung. „Erinnern bedingt vergessen,“ hat Alfred Andersch einmal gesagt. Mit dem erinnernden Blick entschwindet zugleich Vergangenheit. Durch das Erinnern gehen Traditionen verloren, und andere können sich stabilisieren. Das also heißt Sinn stiften: glätten, kompatibel machen, vereinfachen. Das Gedenken an Hanns Eisler in diesem Jahr hat ihn vielerorts verklärt, seine Spitzen abgebogen, seine Widersprüchlichkeit aufgelöst. Willst du einen widerspenstigen Menschen eingliedern, so ehre ihn. Jean-Paul Sartre wußte, warum er die Annahme des Nobelpreises für Literatur verschmäht hat. Nun gut, demnächst werden wir das Jahr 2000 feiern und uns 1999 professionell an Richard Strauss und Frederic Chopin erinnern (lassen). Die Texte sind alle schon verfaßt, die Platten gepreßt, die Bücher in der Druckvorstufe. Lassen wir uns überraschen. Und die Münchner Orchester dürfen endlich offiziell das spielen, was sie sowieso spielen: Richard Strauss.

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