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Wiepersdorf

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Nanu, das ist doch West-Material, sagt die nette Büroleiterin leicht irritiert, als das braune Tesaband, mit dem sie mir das Paket zukleben will, immer wieder reißt. Das Wort steht nicht im Duden, scheint aber in die Umgangssprache eingegangen zu sein, zumindest da, wo nicht Westen ist, also in den so genannten neuen Bundesländern. Wir sind in Wiepersdorf, einem verpennten Bauerndorf sechzig Kilometer südlich von Berlin im märkischen Sand mit seinen Eichen- und Föhrenwäldern. Hier scheint die Zeit still gestanden zu sein. In der Dorfmitte steht die alte Schmiede aus vorsozialistischen Zeiten, hinter jedem Hoftor bellt ein Hund, und dem Fremden wird mit teilnahmsloser Miene nachgeblickt. Vor dem Haus steht der deutsche Einheitsgartenzwerg, daneben der Opel und im rückwärtigen Hof zur offenen Wiese hin der Trabbi. Auf dem Truppenübungsplatz hinter dem Wald ratterten vor zwölf Jahren noch die sowjetischen Panzer.

Nanu, das ist doch West-Material, sagt die nette Büroleiterin leicht irritiert, als das braune Tesaband, mit dem sie mir das Paket zukleben will, immer wieder reißt. Das Wort steht nicht im Duden, scheint aber in die Umgangssprache eingegangen zu sein, zumindest da, wo nicht Westen ist, also in den so genannten neuen Bundesländern. Wir sind in Wiepersdorf, einem verpennten Bauerndorf sechzig Kilometer südlich von Berlin im märkischen Sand mit seinen Eichen- und Föhrenwäldern. Hier scheint die Zeit still gestanden zu sein. In der Dorfmitte steht die alte Schmiede aus vorsozialistischen Zeiten, hinter jedem Hoftor bellt ein Hund, und dem Fremden wird mit teilnahmsloser Miene nachgeblickt. Vor dem Haus steht der deutsche Einheitsgartenzwerg, daneben der Opel und im rückwärtigen Hof zur offenen Wiese hin der Trabbi. Auf dem Truppenübungsplatz hinter dem Wald ratterten vor zwölf Jahren noch die sowjetischen Panzer.Hier gibt es auch das Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf mit der netten Büroleiterin, ein Herrensitz mit Park aus dem späten 18. Jahrhundert, wo später Achim und Bettine von Arnim wohnten und heute ihr Grab zu besichtigen ist. Zu DDR-Zeiten, so munkelt man, sollen bis zu sechzig Angestellte, die meisten von ihnen Dorfbewohner, die illustren Gäste des damaligen „Künstlerheims“ umsorgt und bedient haben, beim abendlichen Servieren sogar in Schwarz. Professor Masur war auch da, und Sarah Kirsch, und übers Wochenende kamen manchmal Leute aus dem Zentralkomitee, sagt eine resolute Frau aus dem Dorf, die nach über zwanzig Jahren Dienst an der Kunst nun in Pension geht. Das waren noch andere Zeiten, fügt sie bei, da gab es noch eine richtige Gemeinschaft, heute kommen ja nur noch diese armen Schlucker. Und dann Frau Schmidt, die mit ihrer systemübergreifenden Herzlichkeit für Jahrzehnte die Seele des Hauses war: Sie schluckt leer, als sie erzählt, dass sie nun auch gehen muss und nur noch aushilfsweise das kleine Museum, in dem die Familiengeschichte der Arnims dokumentiert ist, betreuen darf. Der Kulturbruch macht zu schaffen.

Aus dem Künstlerheim für die DDR-Elite ist ein von den fünf neuen Bundesländern finanziertes Kulturzentrum geworden, wo nun ein markant verringertes Personal ein markant erhöhtes Arbeitspensum bewältigt. In den Ateliers, Studios und Appartements können zwei Dutzend Stipendiaten aus allen Kunstbereichen bis zu fünf Monate lang arbeiten. Die armen Schlucker aus Dresden und Potsdam, Moskau und Arizona fühlen sich in der brandenburgischen Provinz wohl. Die italienische Schriftstellerin erzählt, sie sei mit ihrem Kollegen aus Zimbabwe und einigen anderen am Karnevalssamstag in der einzigen Dorfkneipe gewesen, wo gefeiert wurde. Eine Kapelle spielte, die Dorfbewohner, darunter auch Angestellte des Künstlerhauses, trugen Trachten, saßen und tanzten nach strenger, althergebrachter Regel. Preußen grüßt Bayern. Die ausländischen Exoten wurden freundlich geduldet.

Der nächste größere Ort ist das zwanzig Kilometer entfernte Jüterbog, preußisches Garnisonsstädtchen und Geburtsort von Wilhelm Kempff, dem Pianisten mit dem sensiblen Charme, wie Joachim Kaiser sagt. Die militaristische Vergangenheit des Orts ist noch an den Straßenschildern im Zentrum ablesbar: Pferdestraße, Artilleriestraße, Schützenstraße. Im alten Stadtbild haben sich die Billigladenketten aus dem Westen ausgebreitet und bieten unter den vertrauten Reklamen und Firmenlogos ihren Plastikschrott an. Die alte Soldatengemütlichkeit, die offenbar in der DDR noch mühelos überwintern konnte, wird nun vom kapitalistischen Fortschritt aufgerollt.

Die Tradition lebt indes in den Köpfen fort. Die Touristeninformation im schön renovierten Rathaus aus dem 14. Jahrhundert verkauft Ansichtskarten mit Motiven aus der guten alten Zeit: Grüße vom Dennewitzer Schlachtfeld, Feldmanöver mit rauchenden Kanonen, stolze Dragoner, abgezirkelte Soldatenformationen. Als besondere Spezialität taucht mehrfach das Foto einer Holztafel auf, die frisch renoviert noch immer am Jüterboger Stadttor angebracht ist. Darauf ist der Spruch eingekerbt: „Wer seinen Kindern gibt all sein Brot und leidet im Alter selber Not, den schlage man mit der Keule tot.“ Die Keule hängt an einer Kette gleich daneben. Der irritierte Ortsfremde wird von der Verkäuferin freundlich aufgeklärt, dass sich dieser Spruch auf einen Kaufmann aus einem früheren Jahrhundert beziehe, der zu Lebzeiten sein Erbe an seine Kinder vermacht habe und dann im Alter leider verarmt sei, weil sie ihn nicht unterstützen wollten. Aha, denkt er sich, das sind also die preußischen Tugenden! Protestantischer Fleiß, vorsichtiger Umgang mit dem Geld, strikte Beachtung der gesellschaftlichen Normen, und wer gegen die öffentliche Moral verstößt oder sonstwie auffällig ist, kriegt eins mit der Keule übergebraten. Heute wird ständig von den fehlenden gesellschaftlichen Vorbildern für die ostdeutsche Jugend geredet. Vielleicht ist das ja eines? Immerhin hat die als Handlungsaufforderung öffentlich präsentierte Keule eine fatale Ähnlichkeit mit einem Baseballschläger...

Bei so viel systemüberdauernder deutscher Gemütlichkeit kommt einem unwillkürlich das melancholische Gedicht „Heimkehr“ des deutschen Dichters Heinrich Heine in den Sinn, das Hans Werner Henze in seinen „Voices“ mit trostlosen Bläserklängen so treffend eingefärbt hat. Darin geht ein rot geröckter Bursche vor seinem Schilderhäuschen am alten grauen Turme auf und ab: „Er spielt mit seiner Flinte, die funkelt im Sonnenrot, er präsentiert und schultert – ich wollt, er schösse mich tot.“

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