Der Präventivkrieg im Irak ist erwartungsgemäß gewonnen und wir auf den europäischen Zuschauerbänken fragen uns, wie es wohl weiter geht. Vermutlich kommt nach Saddam nun auch Gomorrha über den Nahen Osten. Während der Herr der amerikanischen Computerarmee, vor Wochen noch ein gelbgesichtiger Hassprediger, fürs Fernsehen wieder den weisen Staatsmann mimt, entdecken seine Strategen bereits neuen Gestaltungsspielraum in der Region. The games must go on. Wir danken für Ihr Verständnis.
Es ist diese selbstverständliche, mit klarem Siegeswillen gepaarte Aggressivität einer kraftstrotzenden Nation, die uns Europäer heute zusammenzucken lässt, und weniger vielleicht die Sorge um irgendein abstraktes weltpolitisches Gleichgewicht – von den Opfern, die als sogenannte Kollateralschäden in die Protokolle eingehen, jetzt einmal zu schweigen. Die Europäer, Opfer und Täter, haben erfahren, was rücksichtslose Machtpolitik bedeutet, und ihre Lehren daraus gezogen.
In dem vom Zweiten Weltkrieg geschwächten Europa hat sich ein Wertewandel vollzogen, der konträr zum Wertesystem der expandierenden Hegemonialmacht USA steht. Die Kontinentaleuropäer haben genug vom Krieg, denn er hat ihnen Unheil gebracht und sie weltpolitisch kastriert. Demgegenüber kennt die US-amerikanische Bevölkerung, freundlich angeleitet von der Medienindustrie, in ihrer großen Mehrheit da offensichtlich keine Skrupel. Sie sieht im Präventivkrieg eine Problemlösung und glaubt an seinen Nutzen für das Land. Die geistige Kluft zwischen Neuer und Alter Welt ist tief, keine Hündchenposen europäischer Politiker/-innen können davon ablenken.
Doch die Unterschiede sind ja nicht neu. Sie haben historische Wurzeln, die uns vielleicht erst jetzt, dank der brutalen Lehren der jüngsten Vergangenheit, richtig bewusst werden. „Danke, Mr. Bush“ – die sarkastische Schlagzeile in einer Berliner Tageszeitung beim Einmarsch in den Irak meinte genau diesen Lernprozess. Doch es gibt auch subtile Analysen der lange verschleierten kulturellen Differenz. Der englische Literaturwissenschaftler George Steiner, ein Humanist alten Schlages, hat in seinem Buch „Von realer Gegenwart“ schon um 1990 auf bemerkenswert klare und leidenschaftslose Art die beiden Mentalitäten miteinander verglichen:
„Zwei grundlegende Impulse speisen den amerikanischen Geist mit Energie: Immanenz und Egalitarismus. Der ausschlaggebende Aspekt amerikanischer Zeit ist das Jetzt. Auf die Vergangenheit kommt es nur in direktem Bezug zu ihrer Verwendbarkeit in der Gegenwart und durch die Gegenwart an. Amerikanische Sensibilität neigt dazu, Erinnerungen nicht in Historizität zu investieren, sondern in Utopia. Transzendenz selbst wird zu pragmatischen Zwecken umgemünzt; die Definition des Morgen ist die einer empirischen Verwirklichung tatsächlicher Träume. Keine andere Kultur hat dem Immanenten so viel Würde zuerkannt.“
Nach dieser Charakterisierung des amerikanischen Zeitbewusstseins kommt Steiner auf die Rolle der kulturellen Überlieferung in diesem Weltbild zu sprechen: „Zugleich sucht der Egalitarismus das Überragende zu domestizieren. Der europäische Kanon ist einer vertikalen Ordnung verpflichtet, weist den Produkten des Intellekts und des Gefühls verschiedene Ränge zu. Sein Vorgehen ist das der Ausschließung. Der Parnass, das Pantheon offiziellen Ruhms, die zum Wesen der europäischen Geisteswissenschaften gehören, sind amerikanischem Empfinden suspekt. Der amerikanische Geist würde auch die Ewigkeit demokratisieren. Daraus folgt, dass zeitgenössische Kunst, Literatur, Musik und Tanz in den hermeneutisch-kritischen Aufgabengebieten der Akademie volle Bürgerrechte genießen. Die Demarkationslinien zwischen dem Akademischen und dem Journalistischen, zwischen Zeitlosigkeit und dem Alltäglichen, zwischen auctoritas, die von der Souveränität des im Kanon festgeschriebenen Vorangegangenen kündet, und dem Experimentellen und Ephemeren sind verwischt.“
Utilitarismus gegen Transzendenz, Gleichheit gegen geistige Rangordnung, verwischte Grenzen zwischen so unverträglichen Kategorien wie Experiment und Kanon – die Problematik ist bekannt und unter dem Signum der Demokratie auch bei uns längst zur Alltagserfahrung geworden. Mit dem Unterschied, dass in den USA die geistigen Disziplinen des „Alten Europa“ in hoch dotierten, wenn auch gesellschaftlich isolierten Denkfabriken auf hohem Niveau weiter gepflegt werden, während sie hier zu Lande von linken Bildungsreformern zum Ballast erklärt werden. Viele derjenigen, die sich heute besonders antiamerikanisch gebärden, sind im schlechten Sinn stärker amerikanisiert, als sie denken.
Und noch etwas anderes lässt sich daraus ableiten. Die in der alten Bundesrepublik als Symbol neu gewonnener Freiheit praktizierte Demontage der tradierten Werte – ein Handlungsaxiom der fortschrittsorientierten Avantgarde – hat genau denjenigen Tendenzen den Weg bereitet, die zur Situation führten, die wir jetzt als „Schwäche Europas“, als „amerikanische Arroganz“ und so weiter bejammern.
Dass nach dem Zusammenbruch der europäischen Werte im dümmsten aller Kriege die Ideologie der wichtigsten Siegermacht sich auf der ganzen Linie durchsetzte, war nicht zu vermeiden. Wir haben unser Erbe weitgehend verspielt und hängen nun am Tropf der US-amerikanischen Alltagskultur und ihrer Medien. Insofern hat Rumsfelds Häme über die aufmuckenden Lakaien des „Alten Europa“ eine reale Basis.
Jahrzehntelang betrieben wir unter dem Etikett des Fortschritts auch in der Musik begeistert, was Steiner mit „Demokratisierung der Ewigkeit“ und als Siegeszug des Ephemeren umschreibt: Die Negation von Transzendenz im Kunstwerk und die Zerstörung des Kanons – Eigenschaften, die den europäischen Werkbegriff wesentlich bestimmen. Das große Vorbild dabei war ein amerikanischer Künstler, der jede innere Geschichtlichkeit und strukturelle Ordnung im musikalischen Werk als Ausdruck von Herrschaft bekämpfte und dabei nachhaltig Erfolg hatte: John Cage. Was er mit dem unschuldigen Eifer des künstlerischen Phantasten predigte, setzte sich in unseren Köpfen dauerhaft fest. Die Ernte wird jetzt vom Realpolitiker Bush quasi nebenher eingefahren. Wer füllt das Vakuum?