Große Erzählung
Ich halte die damalige sehr kurze und voreilig abgebrochene Debatte zum Thema Leitkultur für eine der spannendsten Phasen unter dem Gesichtspunkt einer Beleuchtung der geistigen Verfassung der Nation. Zu den Auffälligkeiten dieser Kurzdebatte gehörte, dass es eine breite, reflexartige Ablehnung des Begriffes gab, obwohl – oder weil – sich in der Debatte herausstellte, dass es eine ebenso breite Zustimmung für das gab, worum es in der Debatte ging. Dass es in jeder Gesellschaft Überzeugungen geben muss, die möglichst breit verankert sind, ist eine Binsenweisheit. Kein politisches System kann seine innere Legitimation ohne solche gemeinsam getragenen Überzeugungen aufrechterhalten – schon gar nicht in schwierigen Zeiten wie heute, in denen nicht Wohlstandszuwächse verteilt, sondern Ansprüche eingesammelt werden müssen. Ohne Leitkultur im Sinne solcher allgemein akzeptierten Orientierungen und Überzeugungen – Sie können meinetwegen auch von Großer Erzählung reden – lassen sich die Lösungen für unsere komplexen Probleme nicht konsensfähig machen. Wir müssen diese Debatte wieder aufgreifen und weiterführen.
Dieser Wortlaut ist einem Interview aus „Die ZEIT“ vom 20. Oktober 2005 entnommen. Der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert antwortete auf eine Frage zur Leitkultur und zu einer neuen kollektiven Orientierung der Gesellschaft.
Kulturelle Neugier
Es gibt viele Menschen, die sagen: Da wir eine Staatsnation geworden sind, bräuchten wir doch nicht mehr den Überbau der Kulturnation.
Ich halte aus Überzeugung dagegen. Ich denke, unser Verständnis von Nation wird im zusammenwachsenden Europa immer weniger von dem der Staatsnation und immer stärker von dem der Kulturnation geprägt werden. Eine Vielfalt gewachsener Kulturnationen auf dem gemeinsamen Fundament der westlichen, demokratischen Werte – das wäre ein europäisches Verständnis von Nation, das nicht mit der Überheblichkeit des Nationalismus liebäugelt. Dies wäre ein Begriff von deutscher Kultur, der nicht der Aus- und Abgrenzung bedarf, der nicht ein Begriff der kulturellen Feindschaft und Abwehr ist. Dies wäre eine Tradition eines selbstbewusst gelassenen, also europäisch normalen Umgangs mit der eigenen kulturellen Identität, die sich nicht zurückdrängen und fixieren lässt auf die Ängste des Identitätsverlusts. Denn sie setzt auf Aufnahmebereitschaft, auf kulturelle Neugier, auf intellektuelle Bereicherung.
Rede des damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der Ausstellung „Nationalschätze aus Deutschland - Von Luther bis Bauhaus“ in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn am 29. September 2005