In der Gegenwartsmusik, die sich selbst die „Neue“ nennt, scheint zur Zeit eine Phase der Konsolidierung eingetreten zu sein. Die Szene wirkt zunehmend zersplittert und leidet unter Geldnot, die ehemals als Treibstoff dienende Fortschrittsideologie hat abgewirtschaftet und das viel beschworene Neue ist häufig nur noch das Zufallsprodukt eines orientierungslosen Herumstocherns in den Möglichkeiten des Klangmaterials, wenn es nicht gleich durch Anleihen im popkulturellen Milieu, wo ganz andere Gesetzmäßigkeiten herrschen, zustande kommt.
Andererseits ist eine Tendenz zur Selbstvergewisserung und zur Bilanzierung des in den letzten Jahrzehnten Erreichten zu beobachten – eine Form von Traditionsbildung, die notwendigerweise einen retrospektiven Touch besitzt, aber durchaus fruchtbar sein kann. Es liefert dem künftigen Komponieren den soliden Humus und verschafft einem breiteren Publikum, das der Neuen Musik gegenüber nicht grundsätzlich abgeneigt ist, halbwegs verlässliche Orientierungswerte. Bilanziert wird auf unterschiedliche Weise. Da werden einmal die ins Alter gekommenen Pioniere der Nachkriegsmoderne mit Retrospektiven, Symposien und Publikationen gefeiert, wenn sie nicht, wie es etwa bei Boulez der Fall ist, selbst noch überaus aktiv am Musikleben teilnehmen. Stockhausen wäre in diesem Jahr achtzig geworden, Messiaen hundert; unter den Lebenden wird Huber demnächst fünfundachtzig, Schnebel achtzig und Carter in diesem Jahr glatte hundert. In unserem auf runde Zahlen fixierten Kulturbetrieb ist jedes dieser Daten ein Grund für Veranstaltungen aller Art. Dann gibt es die großen Traditionsfestivals, die der zeitgenössischen Musik einen festen Platz im Programm einräumen und sie damit einer Öffentlichkeit aussetzen, die bei den Spezialfestivals nur in Ansätzen erreicht werden. Auch sie ziehen in gewisser Weise Bilanz, indem sie sich dem halbwegs Gesicherten widmen. Seit Markus Hinterhäuser, in den neunziger Jahren Leiter der Salzburger „Zeitfluss“-Konzerte, in die Leitung der Salzburger Festspiele eingetreten ist, ist die Gegenwartsmusik wieder fest im Gesamtprogramm verankert. „Kontinent Scelsi“ im letzten Jahr und „Kontinent Sciarrino“ in diesem waren Veranstaltungsreihen, die vor überwiegend ausverkauften Sälen stattfanden und der keineswegs leichtverständlichen Musik einen bisher unerreichten Wirkungsradius verschafften.
Noch konsequenter und zielgerichteter geht das Lucerne Festival vor. Im Zentrum der Aktivitäten mit zeitgenössischer Musik steht das nunmehr fünf Jahre alte, von Pierre Boulez geleitete Nachwuchsprojekt der Lucerne Festival Academy, deren Konzerte in das laufende Programm eingebaut sind. Dazu kommt ein Composer in residence – diesmal der Brite George Benjamin –, dessen Werke auch in Gastkonzerten internationaler Orchester erklingen.
So bildet das Festival eine Schnittstelle zwischen aktuellem Schaffen und einem Publikum, das bereit ist, sein an Klassik geschultes Hören zu erweitern – wenn man ihm denn die Gelegenheit dazu gibt. Luzern zeigt, dass das funktioniert. Liegt die Zukunft der zeitgenössischen Musik in solchen Werkstätten, in denen der Unterricht in Komposition und Interpretation mit der Erziehung neuer Hörerschichten gekoppelt ist? Ein Seitenblick auf die Darmstädter Ferienkurse könnte diese Annahme stützen. Jahrzehntelang galten sie als Brutstätte des Neuen, wo die Crème der Avantgarde, von Stockhausen und Boulez über Lachenmann bis Ferneyhough, ihre ästhetischen Auseinandersetzungen führte und den Nachwuchs in die Geheimnisse ihres Metiers einweihte. Doch im gleichen Maße, wie sich dieser hermetische Avantgardebegriff überlebt hat, ist Darmstadt zu einer Sommerakademie mittleren Ranges geworden, deren heutige Bedeutung hinter ihrem historischen Nimbus verblasst.
Es kann einem heute passieren, dass man bei einem Festivalbesuch im Ausland zufällig auf Nachwuchskomponisten stößt, die voller Erwartung nach Darmstadt gereist sind und sich über das dortige Angebot nachträglich bitter beschweren: es sei ein Schulbetrieb, mit überlaufenen Kursen und renommierten Komponisten, die sich als Dozenten kaum Zeit für den einzelnen Studenten nehmen können und vielleicht auch gar nicht wollen. Das Ganze sei das Geld nicht wert gewesen. Schlechte Noten für eine Institution, die sich stets den aktuellsten Tendenzen verschrieben und dabei offenbar übersehen hat, dass ihnen ein Überleben nur gesichert ist, wenn sie aus ihren Schulräumen hinausgehen und neue Hörerschichten erreichen können.
Das wird wohl eine der Überlebensaufgaben der ins Alter gekommenen Institutionen der neuen Musik sein: Neues Wissen und neue Fähigkeiten so zu vermitteln, dass ein Weg gefunden wird zwischen hochgemuter ästhetischer Abschottung und einem opportunistischen Massenangebot, das letztlich niemandem dient. Modelle dazu sind vorhanden. Am Geld sollte es auch nicht liegen – die Subventionsrate des Lucerne Festivals beträgt zum Beispiel gerade einmal 2,7 Prozent.