Bahnfahren ist schön, vor allem in der Ferienzeit, wenn alles erwartungsvoll dem Ziel seiner Wünsche entgegenreist. Da streckt man die Beine, liest endlich das Buch, für das man nie Zeit hatte, und schaut mit Behagen gelegentlich aus dem Fenster auf die verstopfte Autobahn oder auf das Décolleté der amerikanischen Studentin im Abteil schräg nebenan. Dann dämmert man langsam weg und beginnt zu träumen. Und hat Alpträume.
Erster Alptraum: Ich sitze im vollbesetzten Konzertsaal und warte, bis es losgeht. Nach fünf Minuten Verspätung kommt ein Ansager auf die Bühne und erklärt, wegen technischer Probleme würde sich der Konzertbeginn nochmals ein wenig verzögern. Friedliches Gemurmel im Saal. Nach zehn Minuten kommt er wieder und meldet, leider sei der Dirigent noch nicht eingetroffen, er könne aber jeden Moment da sein. Leises Gelächter. Nach einer Viertelstunde eine neue Ansage: der Dirigent sei jetzt eingetroffen, aber er müsse sich jetzt erst einmal umziehen. Murren im Saal. Endlich ist er da, das Konzert beginnt. Doch nun ist der Zeitplan durcheinander, und der Dienst der Garderobenfrauen geht um halb elf zu Ende. Deshalb wird nach der Pause das vorgesehene Konzert für Orchester von Bartók durch eine Suite von Telemann ersetzt.
Zweiter Alptraum: Ich sitze im vollbesetzten Konzertsaal und warte, bis es losgeht. Nach fünf Minuten Verspätung kommt ein Ansager auf die Bühne und erklärt, wegen technischer Probleme etc. Nach einer weiteren Viertelstunde meldet er, ein Blitz habe die Anlage für die Elektronik außer Betrieb gesetzt, es dauere jetzt eben noch ein bisschen. Nach einer Stunde ist es immer noch nicht so weit. Nach zwei Stunden Sitzen hat die Intendanz eine tolle Idee: Programmwechsel! Statt Stockhausen spielt man eine Sinfonie von Dvorák. Ein Ersatzdirigent ist da, der sie drauf hat, und um Zeit zu gewinnen, dirigiert er sie im halben Tempo. Nach der Pause ist endlich alles repariert, aber nun fehlt der Dirigent für Stockhausen. Der ist ins Restaurant gegangen und gerade beim Dessert. Das Konzert endet um 01.40 statt um 22.40. Die Besucher werden mit Taxigutscheinen beschenkt.
Dritter Alptraum: Ich sitze im vollbesetzten Konzertsaal etc. Nach der obligaten Verzögerung verkündet der Ansager, der Dirigent, der vorher noch anderswo beschäftigt gewesen sei, stecke jetzt leider im Autobahnstau und komme erst in vierzig Minuten an. Man bitte um Verständnis. Aus den vierzig Minuten wird bis zum Schluss eine Stunde, da die halbe Bühnenbelegschaft inzwischen nach Hause gegangen ist und die Umbaupausen länger dauern. Zum Glück alles Alpträume, der Konzertbetrieb läuft immer noch wie geölt. Keine Überraschung, keine Verunsicherung, kein Happening, nichts, nirgends. Unterm Pflaster respektive unterm Parkett liegt kein Strand. Da zeigt sich wieder mal, wie verschlafen der Klassikbetrieb doch ist. Anderswo wird nämlich eifrig an der Wiederkehr der alten Achtundsechziger-Kultur mit ihren herrlich surrealen Aktionen gearbeitet. Zum Beispiel bei der Deutschen Bahn: Sie ist die wahre Avantgarde. Unter den Gleisen liegt wirklich der Strand! Das dreifache Alptraum-Szenario ist hier Realität, und die Happenings jagen sich. Das zeigt ein Blick in das DB-Veranstaltungsprogramm.
Erstes Happening: Mitte Mai, München Hauptbahnhof, im ICE Richtung Mannheim mit Weiterfahrt nach Saarbrücken: Der Lokführer ist nicht eingetroffen, der Zug fährt mit vierzig Minuten Verspätung ab. Der TGV-Anschluss in Mannheim ist futsch, dafür darf man in der S-Bahn quer durch die Pfalz nach Saarbrücken gondeln. Voyage à gogo, mit ICE-Aufpreis natürlich.
Zweites Happening: 8. August, München Hauptbahnhof, im EC Richtung Zürich. Außerhalb Münchens ist bei einer Baustelle irgendetwas schief gelaufen. Warten. Nach zwei Stunden kommt einem Bahnbürokraten die geniale Idee, den Zug über Augsburg umzuleiten. Schleichfahrt nach Augsburg, wo bei der Übergabe auf Dieselbetrieb schon wieder der Lokführer fehlt. Erneutes Warten. Ankunft in Zürich statt um 22.40 erst um 01.40. Das Nachtleben im Zug ist absolut aufregend.
Drittes Happening: 13. August, Bahnhof Lindau, auf der Rückfahrt nach München. Übergabe des EC aus Zürich an die Deutsche Bahn. Und schon wieder fehlt der Lokführer. Aus den vierzig Minuten Verspätung, mit der der Zug startet, wird bis München eine Stunde.
Der praktizierte Schwachsinn beim Großunternehmen Deutsche Bahn weckt fassungsloses Staunen. Ein Konzertintendant, der seine Dirigenten wie Hühner herumlaufen ließe, würde umgehend gefeuert. Bei den Lokführern der Bahn ist das offenbar normal. Dass ein Konzert mit drei Stunden Verspätung weit nach Mitternacht zu Ende ginge, ist undenkbar. Doch die Bahn kann ungehindert massenhafte Geiselnahme betreiben, verbunden mit der Vernichtung von Volksvermögen in Form von Zeitraub. Beschwerden an anonyme Stellen und das Ausfüllen von umständlichen Rückerstattungsformularen ändern nichts, denn sie sind in das System einprogrammiert.
Bleibt nur das Auto. Oder, bei erfolgter Geiselnahme, die fatalistische Zuflucht zu den Ideen des weitsichtigen John Cage. Das gigantische Festival der Inkompetenz lässt sich leicht als Variante seines „Musicircus“ deuten, und eine Zeile aus seinem „Vortrag über nichts“ gibt dazu den perfekten Bahn-Werbeslogan ab: „Langsam haben wir das Gefühl, wir gelangen nirgendwo hin. Das ist ein Vergnügen, das andauern wird.“