Am 23. Mai, als das sechzigjährige Bestehen des deutschen Grundgesetzes gefeiert und der Bundespräsident gewählt wurde, kam es gegen Abend vor dem Brandenburger Tor in Berlin zu einem denkwürdigen Konzert: Vor Zehntausenden von Zuhörern und mit Live-Übertragung im Fernsehen dirigierte Daniel Barenboim Beethovens Neunte Sinfonie. Kommentare gab es hinterher kaum. Es wurde als ein alltägliches Ereignis wahrgenommen, denn Klassik im Freien gehört ja inzwischen zur approbierten Massenkultur wie Fußball und Popmusik.
Es lohnt sich aber, einen Moment dabei zu verweilen. Beethovens Neunte in Berlin – da war doch mal was. Richtig: Die Aufführungen der Philharmoniker zu Führers Geburtstag, jährlich am 20. April, mit der Hakenkreuzfahne über der Bühne und den festlich gestimmten Braunhemden, schneidigen Wehrmachtsoffizieren und Parteigrößen im Parkett und dem braven Dirigenten Furtwängler, der eine richtig erhebende Stimmung für diesen Heldengeburtstag zu schaffen verstand. Und nun wieder die Neunte zu so einem Festakt, wenn auch unter ganz anderen politischen Umständen.
Warum wird eigentlich seit über anderthalb Jahrhunderten auf diese Sinfonie zurückgegriffen, wenn ein politisch bedeutsamer Moment gefeiert werden soll? Sie hatte stets für die höhere Weihe zu sorgen, bei Staatsakten und Feierstunden, in Ost und West, und alle fanden in ihr etwas, mit dem sie sich identifizieren konnten: Citoyens und Bourgeois, Sozialisten und Nationalsozialisten, Schlagerfans, Bildungsbürger und Nato-Generäle.
Bei den Sylvesterkonzerten der deutschen Arbeiterbewegung wurde einst die Sinfonie so programmiert, dass der Schluss mit den Neujahrsglocken zusammenfiel, und der Bankierssohn und DDR-Musikologe Harry Goldschmidt genoss den plebejischen Tonfall des Finales: „Mit Triangel, Becken und großer Trommel hält die Straße ihren Einzug in den Konzertsaal.“ Bei den ersten Olympiaden der Nachkriegszeit diente die Freudenmelodie als Nationalhymne der beiden deutschen Staaten, um diplomatische Verwicklungen zu vermeiden. Dann wurde sie Nato-Hymne und schließlich, im Arrangement von Karajan für Blasorchester, zur sogenannten Europahymne. In Tel Aviv erklang die Neunte am Tag der Urteilsverkündung gegen Adolf Eichmann – der Text wurde allerdings auf Englisch gesungen.
Das Werk wurde auch zum Gegenstand von Parodien und Karikaturen, bester Beweis für eine schrankenlose Popularität. Julie Schrader alias Berndt W. Wessling dichtete: „Köstliche Neunte Symphonie, / Oh, Chor der schmetternden Trompeten! / Oh, Urgebild der Phantasie ... / Es kracht dein Klang aus allen Nähten!“
Die grenzüberschreitende Akzeptanz hat natürlich vor allem mit Schillers Text zu tun, diesem Aufruf zur Menschheitsverbrüderung, aber auch mit dem aktivierend-militanten Tonfall von Beethovens Musik. Es ist gleichsam die in Töne gesetzte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, des Credos der bürgerlichen Epoche; der französische Schriftsteller Edgar Quinet, Zeitgenosse Balzacs, nannte das Chorfinale deshalb auch die „Marseillaise de l’humanité“. Und immer, wenn dieses Credo symbolisch bekräftigt werden musste, wurde die Neunte bemüht, von den großen Freiheitsmomenten wie der Maueröffnung 1989 in Berlin – Leonard Bernstein ließ damals „Freiheit, schöner Götterfunke“ singen – bis zur trüben Kehrseite des Massenjubels, den Fällen des demagogischen Missbrauchs in den Diktaturen.
Beethovens Neunte, bis heute hochpolitisch. Das jetzige Konzert zum Verfassungstag und die Führergeburtstagsfeier, zwei Berliner Ereignisse, markieren die Extrempunkte in ihrer bewegten Rezeptionsgeschichte. Damals die geballte Macht der Nazigesellschaft, Uniformen in Reih und Glied, eine Selbstdarstellung des deutschen Herrenmenschen im Moment kollektiver Weihe. Jetzt eine bunte Menschenmenge an einem warmen Maiabend: Neugierige, Flaneure und Kenner, Familienväter mit Kindern auf den Schultern, Liebespaare und Rentner. Die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der diese Ansammlung von Individuen die Botschaft der Musik auf sich wirken ließ, zeigt, welch ungeheure Veränderungen in den Köpfen der Menschen seit 1945 stattgefunden haben.
Noch lange nach dem Krieg reagierten viele auf das Stück begreiflicherweise mit Reserve; der Missbrauch wirkte nach. Doch mit dem Konzert vom 23. Mai hat sich etwas grundlegend verändert. Beethovens Neunte ist ein Stück deutscher Normalität geworden, wie Fußball, Demokratie und sechs Wochen Urlaub. Eine humane Botschaft ohne dubiose Heilsversprechen. Und das Beste: Endlich lässt sie sich ohne ideologische Bauchgrimmen hören.