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Fragen und Antworten
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Luigi Nono wünschte sich einst, die Musik solle „das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken“. Daran anknüpfend formulierte kürzlich ein anderer Unbeugsamer seine Vorstellung von der Rolle der Kunst in der heutigen Gesellschaft: „Hier lernen und leben Menschen, die ihre Welt nicht definieren, weil sie die Mängel und Defizite, die Neurosen und Probleme besonders trefflich zusammenzählen können, sondern hier treffen sich Menschen, die wissen, was die Zukunft einer Gesellschaft ausmacht. Hier treffen sich Menschen, die Freude an der Freiheit haben. An der Freiheit der Erwachsenen zumal, die wir bei ihrem Namen nennen: Verantwortung.“ Es war Joachim Gauck bei der Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen 2011. Das laute Lob der stets unzulänglichen Gegenwart war natürlich eine rhetorische Finte. Der Redner sprach zwar im Indikativ, dachte aber, wie einst Nono, in der Möglichkeitsform, und er wollte Mut machen: Mut, über den eigenen Gartenzaun hinauszudenken, optimistisch in die ungewisse Zukunft zu blicken und als Künstler wie als Zuhörer am großen, zeitlos aktuellen Projekt aktiv mitzuwirken: der Freiheit, die immer wieder neu erkämpft werden muss. Das ist das ästhetische Programm eines überzeugten Republikaners. Nono hätte es bedingungslos unterschrieben.

„Und das in Salzburg?“, werden die besonders Kritischen nun einwenden. Nun ja, wir können die Aussage auch einmal auf ein Zentrum der Avantgarde übertragen: auf Donaueschingen. Hier treffen sich in diesem Monat wieder die Parteigänger der ewig Neuen Musik, die sich der breiten Masse und dem Salzburger Bürgerpublikum bewusstseinsmäßig weit überlegen fühlen. Doch wenn sie, was wir mal annehmen wollen, nicht bloß „die Mängel und Defizite, die Neurosen und Probleme besonders trefflich zusammenzählen“ wollen: Wie definieren sie eigentlich ihre Welt? Welche Erwartungen haben sie als Komponistinnen und Komponisten, als Kritikerinnen und Kritiker, als Publikum ganz allgemein? Wie wollen sie die Zukunft gestalten, die eigene, die der Gesellschaft und die der Musik? Was bedeutet Freiheit für sie, und wie wollen sie sich dafür einsetzen? Eine diesbezügliche Umfrage wäre vermutlich erhellender als die für die Musiktage geplante Inszenierung eines reglementierten Hyde Park Corners in der Donaueschinger Karlsstraße, wo per Ausschreibung rekrutierte Lobredner im Auftrag der Gesellschaft für Neue Musik deren „unverbrüchliche Notwendigkeit“ diagnostizieren sollen.

Für Armin Köhler, den Leiter der Musiktage, gilt der Grundsatz: Neue Werke sollen Fragen stellen, nicht Antworten geben. Der Grundsatz passt gut, denn er bürgt für Offenheit und verhindert ästhetische Festlegungen. Garantiert ist damit aber nichts. Auch das Fragenstellen könnte zum Leerlauf werden, sollte es einmal so weit kommen, dass man vor lauter Freude am Fragen gar nicht mehr weiß, warum man es tut. Irgendetwas in Frage stellen kann jeder, sei es die Rolle des Dirigenten oder die Anordnung der Sitzreihen im Saal, und nimmt man die Summe dieser Fragen, ergibt sich ein entropischer Zustand – eine Fülle von Informationen, die sich gegenseitig neutralisieren und zum Hintergrundrauschen verkümmern. Und dann keimt auch im Besucher eine Frage auf, nämlich die nach dem Sinn des unbestimmten Fragenkatalogs. Denn es könnte sein, dass er die Fragerei satt hat und lieber nach Antworten sucht.

Wer Fragen stellt, gängelt niemanden, sondern appelliert an die Denkfähigkeit des sogenannten mündigen Bürgers. Doch er legt sich nicht fest. Er genießt die Freiheit des Sprechens, ohne Verantwortung zu übernehmen. Wer hingegen Antworten gibt, legt sich fest und wird angreifbar. Da wir heute in einer Gesellschaft leben, die in wichtigen Lebensfragen nach Antworten sucht, stellt sich die übergeordnete Frage: Genügt es noch, auf risikolose Weise Fragen zu stellen? Wären nicht vielmehr provokante Meinungen – also subjektive Antworten – zu diesen Lebensfragen nötig, die vielleicht einen Moment lang Licht ins Dunkel des allgemeinen Fragegestrüpps bringen könnten?

Von der Musik kann man nicht erwarten, was die Gesellschaft als Ganzes nicht zu leisten vermag. Man sollte sie also nicht allzu sehr mit Antworten beschweren. Doch man sollte von ihr erwarten dürfen, dass sie Anstöße in eine Richtung gibt und ein Klima schafft, in dem zum Beispiel die eingangs zitierten, die Grundlagen unserer Existenz berührenden Gedanken sich entfalten können. Die Frage ist natürlich, ob wir noch wissen, was die Zukunft unserer Gesellschaft ausmacht, und ob wir die Freude an der Freiheit noch nicht ganz verloren haben. Vielleicht erwartet uns ja in Donaueschingen ein Werk, das unser Denken dementsprechend aufweckt.

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