Zum Auftakt der Donaueschinger Musiktage veranstaltet der Bayerische Rundfunk traditionell eine Talkrunde vor Ort zum Thema Neue Musik. Teilnehmer war diesmal auch Armin Köhler, der Leiter der Musiktage, der bei dieser Gelegenheit einmal mehr erläuterte, warum er den als experimentell geltenden Aktivitäten wie Performance, Klang- und Konzertinstallation einen so prominenten Platz im Programm einräumt. Solche Veranstaltungsformen sind mittlerweile zu einem Markenzeichen Donaueschingens geworden. Sie bilden nicht nur eine obligate Zugabe zu den Ensemble- und Orchesterkonzerten, sondern sind auch in diese selbst eingedrungen, indem sie das traditionelle Konzertritual auf immer wieder andere Weise auf den Prüfstand stellen. Was allerdings für Donaueschingen auch nichts Neues mehr ist, denkt man etwa an Experimente wie Globokars „Laboratorium“ oder Stockhausens „Trans“ aus den 1970er-Jahren.
Neu ist heute vielleicht der Versuch, solche Experimente wieder theoretisch zu adeln, indem man ihnen eine wie auch immer geartete historische Notwendigkeit unterstellt. Bei Armin Köhler, der unverdrossen nach dem Neuen sucht und dieses nicht mehr wie einst im Material, sondern im Kontext zu finden glaubt, hört sich das dann so an: „Neues kommt auch aus unserem gesamtgesellschaftlichen Tun heraus. Wie gehen wir mit Kunstwahrnehmung um? Was hat sich da alles geändert durch den Umgang mit neuen Medien? Durch die stärkere Akzentuierung des Visuellen durch die neuen Medien in unserem Alltagsgebrauch? Das Ohr spielt da immer weniger eine Rolle.“ Und er folgert: „Das Neue ist neben dem Ästhetischen auch ein soziales Moment.“
Man kann darüber diskutieren, ob es die Aufgabe eines Musikfestivals sein soll, auf Phänomene einzugehen, bei denen das Hören eine untergeordnete Rolle spielt. Wenn es nicht in Dilettantismus und Fun abgleitet und ein qualifiziertes neues Publikum anlockt, warum nicht? Doch bei aller Sympathie für solche Versuche: Sollte das qualifizierte Hören dadurch zur Nebensache degradiert werden, so wäre das etwa so sinnvoll wie ein schlecht ausgeleuchtetes Museum. Und wenn Armin Köhler meint: „Neue Wahrnehmungsmechanismen bedingen selbstverständlich auch neue Mechanismen im Rezeptionsakt, und damit im Schaffensakt“, so ist dem als triviale Feststellung nicht zu widersprechen. Doch sollte daraus eine Handlungsanweisung abgeleitet werden, so hieße das in letzter Konsequenz: Nicht mehr der Autor, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse – zugespitzt: die Konsumgewohnheiten – bestimmen das „Produkt“. Das wäre dann Marketingdenken wie bei einem Lebensmittelkonzern. Oder eine gelenkte Quote, je nachdem.
Der Begriff des „Neuen“ ist an das wissenschaftlich-technische Fortschrittsdenken gekoppelt. Wer ihn für die Kunst – egal ob material- oder kontextbezogen – wieder aus der Truhe holt, muss aufpassen, dass er nicht in der Denkschiene von anno dazumal landet: im ideologieseligen 20. Jahrhundert, als sich Schönberg als Vollstrecker des musikgeschichtlichen Weltgeistes und der Serialismus als dessen ebenso notwendiges Erbe verstand und die KPdSU aus objektiven historischen Gründen die Interessen der Werktätigen vertrat.
Zwar werden die geschichtsphilosophischen Argumente heute ersetzt durch den Verweis auf die medial bedingte Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten. Doch beide Male konstruieren die Apologeten ein theoretisches Korsett, in das sich die Kunst bitteschön einzupassen hat, soll sie als „neu“ oder eben als theorierelevant wahrgenommen werden. Es ist der alte linke Irrtum, den schon Nono als ideologisches Wunschdenken entlarvte: Die Wirklichkeit – in diesem Fall das künstlerische Schaffen – soll sich nach den theoretischen Konzepten richten statt umgekehrt. Das Werk dient dann als Beleg für die Richtigkeit der theoretischen Vorgaben; es wird nicht als Kunstwerk ernstgenommen, das seine eigenen Gesetze schafft. Und der Künstler wird zum Dienstleister, der sich nach den kritischen Wahrnehmungs- respektive Konsumgewohnheiten zu richten hat. Doch neue Musik sollte weder den kritischen Verbraucher bedienen noch nach irgendwelchen Kontexten schielen, sondern neue geistige Fakten schaffen, die zur Auseinandersetzung einladen. Und dazu braucht man eben seine zwei Ohren.
Das funktioniert trotz allem auch noch in Donaueschingen. Wie wäre sonst zu erklären, dass die stärksten Eindrücke nach wie vor von den traditionellen Konzerten ausgehen? Für andere Programmpunkte mag gelten, was für jedes künstlerische Misslingen gilt: Das Recht auf Scheitern.