Wenn auf ökologisch labilen Bodenformationen die tiefer wurzelnden Pflanzen absterben oder beseitigt werden, beginnt bekanntlich die Versteppung. Es muss nicht so weit kommen wie in der von John Steinbeck („Früchte des Zorns“) beschriebenen „Dust Bowl“ im amerikanischen Mittelwesten, wo in den 1930er-Jahren wegen Raubbaus an den Ressourcen ganze Landstriche in Sandwüsten verwandelt wurden. Meist bleibt es bei einer überschaubaren Menge von Treibsand, doch schon der kann das Getriebe zum Knirschen bringen und brennende Augen verursachen.
Momentan wird die deutsche Politik von so einem kleinen Sandsturm heimgesucht, und alle reiben sich die Augen. Womit sie meist die Ursachen übersehen: jahrelange falsche Bodenbewirtschaftung und eine Vorliebe für Denkpflänzchen ohne Tiefgang. Die Liberalen sehen nun ihre Felle im staubigen Wind davonfliegen, und jene Kräfte, die sich bisher bei Bahnhofs- und anderen Verhinderungsaktionen profiliert haben, müssen nun ihre Führerschaft im Dagegensein an eine Gruppe abgeben, die ihnen die sorgsam am Köcheln gehaltene Suppe gehörig versalzt. Denn diese neue, internetbasierte Opposition argumentiert mit der ruppigen Voraussetzungslosigkeit derer, die noch keine Pfründe zu verlieren haben. So haben es auch die Erfinder des gelb-roten Sonnenlogos vor dreißig Jahren gemacht, nur auf analoger Basis.
So verhilft der Treibsand paradoxerweise zu einer klareren Sicht auf das eine oder andere Problem. Doch er könnte auch manche noch immer halbwegs funktionierenden Strukturen nachhaltig lähmen – nicht durch die Qualität der kritischen Substanz, denn Sand bleibt Sand, sondern durch seine pure Menge. Das zeigt sich etwa bei der Diskussion um das Urheberrecht. Nachdem sich unter den Autoren endlich eine Front gegen die immer dreisteren, in der Öffentlichkeit aber meist verniedlichten Urheberrechtsverletzungen gebildet hatte, haben sich nun „101 Piraten für ein neues Urheberrecht“ zu Wort gemeldet, um ihre Meinungen kundzutun.
Auffallend an den kurzen Statements ist, dass sich viele als Hobby- und Freizeitaktive, Musikliebhaber oder schlicht als Konsumenten bezeichnen; zahlreiche sind in der Computerbranche tätig. Da wird unterschrieben mit „Software-Entwickler, Dichter und Konsument“ oder mit „Fotograf, Musikhörer, Selbermacher und Konsument“, manche geben als Berufsbezeichnung einfach „Blogger“ an, viele sind Funktionäre der gerade entstehenden Piratenpartei. Womit sie ihr Geld verdienen, ist unklar. Nur eines scheint sicher zu sein: Sie verdienen es nicht als Künstler. Es sind Amateure, die nicht wissen, was Kunstproduktion bedeutet, weder für den Autor noch für die Strukturen, die zur Verbreitung seiner Werke nötig sind.
Eine Partei, in der sich Leute mit modernsten Technologiekenntnissen, Ingenieurswissen und ökologischem Sachverstand zusammentun, wäre ein Segen für eine Gesellschaft. Insofern müsste man jede Gruppierung, die sich darum bemüht, freudig begrüßen. Doch hier triumphieren alte linke Ressentiments gegen künstlerische Großverdiener und „irgendwelche Verwertungsgesellschaften“, die den Künstler angeblich übervorteilen und dem kleinen Garagengitarristen sein wohlverdientes Geld vorenthalten. Konsequenterweise ertönt auch der Ruf nach einem Grundeinkommen für Künstler. Wobei die Leute, die das fordern, vermutlich selbst bestimmen wollen, wer ein „Künstler“ ist. Unter dem Deckmantel einer Reform im Dienste des Fortschritts werden die peinlichsten Forderungen aus der Mottenkiste der Neidkultur hervorgeholt. Es triumphiert der Billigkonsument, der die Mediamarkt-Losung „Das hol’ ich mir, ich bin doch nicht blöd!“ verinnerlicht hat.
Wie eine vernünftige Neuausrichtung des Urheberrechts im digitalen Zeitalter aussehen könnte, hat neulich die junge Grünen-Abgeordnete Agnes Krumwiede in einem Interview in der FAZ dargelegt. Sicher ist da auch noch manches Wunsch und graue Theorie. Auf dem Kampffeld, auf dem sich Autoren, Musikindustrie, Verwertungsgesellschaften, Internetmonopole und Konsumenten raufen, gibt es Machtfaktoren, denen man mit wohlgemeinten Vorschlägen nicht beikommt. Und dass in diesem wilden Spiel der Marktkräfte die Politik nur bedingt mitreden kann, kann man an Orten wie der „Midem“ in Cannes beobachten, wo die Multis den Ton angeben.
Doch Anfänge zum Weiterdenken sind nötig. Was nicht nötig ist, sind vorgestrige Neidargumente und Meinungen angeblicher Musikfreunde, die keine Ahnung von der Materie haben, aber Musikkonsum als Menschenrecht reklamieren wollen. Doch wird sich diese Mentalität vermutlich weiter ausbreiten; das Internet, wo sich die Piraten zu Hause fühlen, sorgt im Selbstlauf dafür.
Das Protestpotenzial in der Gesellschaft bedarf ständig neuer Aufreger, und was ist schon ein Bahnhof gegen das Internet, wo ein Sandsturm-Mob sogar in Windeseile die Todesstrafe für unschuldige Jugendliche fordern kann? Mit dem digitalen Stammtisch müssen wir leben lernen.