Was hat er nur angestellt, dass sich alle so über ihn hermachen? Landauf, landab wird er vorgeführt, jeder will sein „friend“ sein, Tausende klicken im Geiste auf „find’ ich gut“, und wer sich progressiv geben will, steckt sich seine Gedanken als Button ans Revers.
Das hätte sich John Cage wohl nicht im Traum vorzustellen gewagt. Nun ist er tot und muss sich die ganze Kirmes nicht mehr anschauen, die 2012, im Jahr seines hundertsten Geburts- und zwanzigsten Todestags, veranstaltet wird. Jahrzehntelang war er der Einzelgänger, der vom offiziellen Kulturbetrieb geschnitten wurde, und nun ist er plötzlich zu dessen Galionsfigur geworden.
Bisher verkaufte sich seine Musik mehr schlecht als recht; die Neue-Musik-Zirkel sind nicht gerade ein Massenmarkt. Doch der Zeitgeist hat schon seit längerem signalisiert, dass da noch mehr drin liegt; der Kunsthandel, der seine Objekte und Bilder vermarktet, macht es schließlich vor. Es fehlte bisher nur der entscheidende Marketing-Kick, um die Marke Cage auf der musikalischem Beliebtheitsskala nach oben zu katapultieren. Den haben nun die runden Jahreszahlen geliefert. Ein wahres Himmelgeschenk für den jubiläumssüchtigen Kulturbetrieb. Dabei hatte eigentlich alles ganz vernünftig begonnen, mit einigen hörenswerten, weil seriös erarbeiteten CD-Produktionen und mit klug zusammengestellten Konzertprogrammen von Veranstaltern, die um die Ansprüche ihres Publikums wussten. Doch nun gibt es kein Halten mehr. Landesweit wird dem friedlichen Anarchisten, der nichts so sehr verabscheute wie Repräsentation, gehuldigt, jeder Juxverein macht 4’33“, jeder fröhliche Musikant spielt irgendeine „Number Piece“, jeder Fernsehmoderator philosophiert rasch über das Thema Cage, Zen und Zufall. Auf der anderen Seite wird Cage von deutschen Urgründlern zum Propheten der Zeitlosigkeit und seine in Halberstadt zum Dauerklang gestreckte Komposition „Organ2/ASLSP“ zum Ewigkeitssymbol stilisiert – eine groteske Fehldeutung, die Gerd Zacher neulich in den MusikTexten als Jahrhundertspuk verspottete. In seinem Namen werden Bahnhöfe beschallt und Landschaften klangverschönert, und ein weitgehend öffentlich finanziertes Vorhaben mit Namen „CAGE100“ und Boulez als Patron verspricht, „100 verschiedene und äußerst innovative Veranstaltungen in über 30 Ländern ganz aus dem Geiste von John Cage zu entwickeln“. Cage als Staatskomponist: Das hat gerade noch gefehlt.
Der gnadenlos Abgefeierte ist selbst nicht ganz unschuldig an der flächendeckenden Betriebsamkeit. Viele seiner Partituren hat er ja bewusst nur in Teilaspekten definiert und den Rest den Interpreten überlassen. Seine Angaben zu dem 1967 an der University of Illinois uraufgeführten „MusiCircus“ besteht aus einem einzigen Satz: „Für eine beliebige Anzahl von Spielern, die bereit sind, am gleichen Ort aufzutreten.“ Die Dauer ist unbestimmt, was gespielt wird ist egal. Die Unbestimmtheitsästhetik öffnet nicht nur der kreativen Fantasie, sondern auch der Beliebigkeit Tür und Tor. Für die Freiheit, die Cage ihm schenkt, ist der Interpret selbst verantwortlich. Manche wollen von dieser Verantwortung nichts wissen und stolpern bloß freiheitstrunken im leeren Raum herum. Dem heutigen Publikum ist das ziemlich egal. Es betrachtet, durchaus naheliegend, Cages offene, interaktive Konzepte unter dem Aspekt von Web 2.0 und ignoriert, dass dahinter die asketischen Denkfiguren des Zen-Buddhismus stecken. Zen gehörte neben den radikal-individualistischen Idealen des amerikanischen Puritanertums zu den stärksten Triebkräften seiner Arbeit. Solche Überlegungen gelten jedoch als spaßtötend.
Damit sind wir bei der kniffligen Frage nach der Popularisierung von Kunst, die in den konsumistischen Forderungen der Musikpiraten gerade eine triviale Wiederkehr feiert: Wem „gehört“ die Musik, dem Autor oder dem Hörer? Was verändert sich, wenn ein esoterisches Kunstwerk plötzlich massentauglich wird, im Werk selbst und im Verstehensprozess? Die Fragen werden bekanntlich nicht erst seit Bestehen des Internets gestellt, und individuell geschaffene Werke unterlagen schon immer gesellschaftlichen Umcodierungen. Beethoven ist heute für viele der Autor der „Europa-Hymne“, und Schönberg hoffte, dass die Leute auf der Straße dereinst seine Zwölftonmelodien pfeifen würden.
Cage kannte keine Berührungsängste und war auch da wieder seiner Zeit voraus. 1970 antwortete er mir im Interview auf die Frage, ob seine Musik überhaupt die Menschen erreiche: „Wenn ich in den fünfziger Jahren ein Konzert gab, kamen vielleicht 125 Leute. Letztes Jahr, als ich in Illinois ‚HPSCHD’ aufführte, kamen zwischen sieben- und neuntausend aus dem ganzen Land, sogar aus Europa. Beim ‚MusiCircus’ in Illinois waren es fünftausend, und der Eintritt war frei. Things are changing.“ Und dann lachte er sein Buddha-Lachen.
Der heutige Cage-Hype ist die logische Fortsetzung dieser Events, und er hat Ähnlichkeiten mit dem Massenverhalten der Pop-Fans, die „ihre“ Songs rein situativ hören und dabei nicht so genau wissen wollen, was musikalisch drin steckt. Musik nicht mehr als geistiges Gebilde, das man hörend zu entschlüsseln versucht, sondern Musik als Umweltgeräusch, als Antrieb und Dekor sozialen Verhaltens. Cage sagte dazu: „Sie müssen es nicht Musik nennen, wenn Sie nicht wollen.“ Wieder so eine unbequeme Aussage. Cage gibt uns einen Joker in die Hand, und wir wissen nicht so recht, was wir damit anfangen sollen. Der Betrieb ist derweil in Feierlaune.