Zweifellos rührt dieses Thema an den Nerv der neuen Musik, was uns gerade jetzt in Corona-Zeiten und dem Zusammenbruch des Konzertlebens und Festivalgeschehens eindringlich bewusst wird. Zirka 45 Jahre lang habe ich das Festivalgeschehen neuer Musik – vor allem im deutschen Osten und Westen – als Musikwissenschaftlerin und -publizistin intensiv verfolgt, zuerst als Redakteurin der Zeitschrift „Musik und Gesellschaft“ (hrsg. vom Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR), dann als Mitgründerin und später Chefredakteurin der „Positionen. Texte zur aktuellen Musik“ (im Eigenverlag).
Aus dieser doppelten Perspektive zunächst ein befremdetes Erstaunen: Auch im 30. Jahr der Wiedervereinigung wird die Festivalsituation einseitig aus westlicher Perspektive diskutiert. Was ist mit den „Randspielen Zepernick“, der „Pyramidale“ in Berlin-Hohenschönhausen, den „Tonlagen“ Dresden und den Dresdener Musikfestspielen, den Musica Viva-Konzerten in Leipzig, den „Intersonanzen“ in Potsdam, den Stelzenfestspielen BeiReuth, den Tagen Neuer Musik Weimar und anderen und mit den sehr wahrscheinlich sehr anderen Erfahrungen ihrer InitiatorInnen und OrganisatorInnen?
Zur Sache: Sicher ist – ohne Festivals gäbe es die neue Musik nicht so, wie wir sie heute in ihren vielfältigen Erscheinungsformen kennen. Festivals mit ihren zunehmend vielfältiger werdenden Programmkonzeptionen haben sich zum wichtigsten Ort entwickelt, an dem sich die Innovationsimpulse zeitgenössischer Musik entfalten können. Zugespitzt kann man sagen: Ohne Festivals gäbe es keine neue Musik oder diese nur rudimentär. Was in sozio-kultureller Hinsicht für die neue Musik des 18./19. Jahrhunderts der bürgerliche Konzertsaal war, wurde für die neue Musik des 20./21. Jahrhunderts das Festival.
Einher ging diese Entwicklung mit dem Verlassen des Konzertsaals und der Eroberung anderer städtischer und landschaftlicher Orte, weil der am aufklärerischen Ideal orientierte das Innovationspotential der musikalischen Moderne zunehmend behinderte. Jahrzehntelang war der Zweck von Festivals – vereinfacht gesagt – die Präsentation des Entwicklungsstand des musikalischen Materials, wie er sich in den Werken manifestiert. Erst seit zirka den endachtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erkannte man die damit einhergehende, weitere Abkoppelung vom Publikum. Immer mehr Festivaltypen entstanden, bei denen neue Musik zum Anlass für eine gemeinsam verbrachte, „intensive Erlebniszeit“ wurde. (Uwe Rasch, nmz 10/20). Entsprechende Kontexte (Vorträge und Diskussionen, gemeinsames Nach-Denken, Landschaftserlebnisse, Essen und Trinken, Geselligkeit … veranlasst durch neue Musik) bilden dafür die Basis.
Zeitgenössische Musik erhält damit die Chance, zentraler Teil eines Erlebnis-, Erfahrungs-, Lebensraums zu werden – und ideell über sich selbst hinaus zu weisen. Darin sehe ich ein spezifisches Potential von Festivals im 21. Jahrhundert. – Bereits 2002 thematisierten wir mit einer Nummer der „Positionen“ (Nr. 52/2002) diese neue Qualität einer Festivalkultur und nannten das Heft „Festival Alternativen“, auch mit Beiträgen dazu, was wäre, wenn wir die Festivals neuer Musik abschaffen würden.
Eine solche Alternative entwickle ich seit drei Jahren mit einer kleinen Gruppe von Enthusiasten, organisiert als Projektgruppe Musik im Förderverein Naturpark Barnim, in einem kleinen Dorf nördlich von Berlin. Ein Festival, das mit einem durchkomponierten Programm aus Konzertinstallationen, Klangaktionen, Naturführungen, Gesprächen, Vorträgen usw. Dialoge zwischen neuer Musik und Landschaft/Natur initiiert. Im Zentrum des Festivals steht die Entwicklung neuer, dialogischer Musikformate, die für das Publikum sinnliche Erfahrungsräume für eines der gegenwärtig existentiellsten Probleme der Gegenwart bereitstellen: für die Folgen des Klimawandels – vor der Haustür. Angesprochen ist damit ein breites Publikum, vom Musik- und Kunstfreund bis zum Wanderer, Förster, Klimaschützer und Naturfreund.
Grenzüberschreitungen vollziehen sich also nicht nur auf künstlerischer Ebene, sondern zwischen Musik, Natur, Naturwissenschaften und Alltag. Sie betreffen – verankert in der inhaltlichen Festivalkonzeption – die Erweiterung des angesprochenen Publikums und reichen weiter bis in sozial-politische Bereiche hinein, indem wir politisch und kulturell Verantwortliche der Region, vom Bürgermeister, über Mitarbeiter des Naturparks Barnim bis zum Pfarrer für unsere Ideen gewinnen konnten: für die „Mühlenbecker Klanglandschaften“ 2019 (25.+26. Mai) und die „Klanglandschaften: Mühlenbeck Hobrechtsfelde“ 2021 (18.–20. Juni).
Als offene und weiter zu diskutierende Frage bleibt im Kontext dieser Festival-Diskussion (gestellt auch aus meinen Erfahrungen als Mitglied verschiedener Neue-Musik-Jurys, in denen das Thema Grenzüberschreitung eine wichtige Rolle spielte): Genügen die vorhandenen Förderinstrumente mit neuer Musik mit ihren entsprechenden Richtlinien und dem Schwerpunkt Projektfinanzierung überhaupt noch, um Festivals wie auch solcherart aus dem Kunstrahmen herausfallende Festival-Grenzüberschreitungen angemessen fördern zu können? Brauchen wir nicht gerade auch für Festivals, die langfristiger planen müssen als einzelne Konzerte, speziellere Förderrichtlinien?
Gisela Nauck, via E-Mail