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MicroOrchester mit Konzept: die Spieler improvisieren mit verbundenen Augen auf Zuruf. Foto: Michael Scheiner
MicroOrchester mit Konzept: die Spieler improvisieren mit verbundenen Augen auf Zuruf. Foto: Michael Scheiner
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Bei uns hören viele junge Leute Jazz

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Israels junge, pulsierende Jazzszene bringt viele Talente hervor
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Vergangenen Herbst hat ein junges israelisches Quartett bei den Ingolstädter Jazztagen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, das zuvor faktisch unbekannt war. Anfänglich noch entspannt abwartend, ließ sich das Publikum von den ausgefeilten, temperamentvollen Soli des gerade mal 26-jährigen Omri Abramov (ss, ts) auf seinem elektronischen Blasinstrument EWI und Guy Shkolnik (synth) am Flügel regelrecht mitreißen. Am Ende mussten gar Rufe nach Zugaben ignoriert werden.

Niogi, ein Fantasiename, der mit japanischem Akzent „Nee-oh-tschie“ ausgesprochen wird, hat bei der Welcome-Party erstmals sein Debütalbum live präsentiert. Niogi hat „Landing“, ein Quartettalbum, im Rainbow-Studio des Osloer Soundmagiers Jan Erik Kongshaug für das österreichische Label Alessa Records aufge-nommen. Peter Guschelbauer, der den Verlag vor zehn Jahren gegründet hat, um „Musik von allerhöchster Qualität aus der Taufe zu heben“, hatte Niogi zwei Jahre zuvor gehört, als sie erstmals in Deutschland unterwegs waren.

Damals existierten noch keine Aufnahmen – außer einigen unprofessionellen Mitschnitten. Die Band hatte aber ein klares musikalisch-künstlerisches Konzept und den Willen, sich auch außerhalb des eigenen Landes behaupten zu wollen. Von den beiden in Tel Aviv lebenden Musikern Abramov und Shkolnik 2011 initiiert, hatte das Quartett – mit Shai Hazzan (bass), später ersetzt durch Per Mathisen, und Utsi Zimring (drums) – schon Live-Erfahrung in Clubs und bei diversen Events gesammelt. Hauptsächlich in ihrer Heimatstadt und in Jerusalem und ausschließlich mit eigenem Material. Kennengelernt haben sich die beiden, weil sich Abramov nach seinem Militärdienst im Musikcorps der Luftwaffe weiterentwickeln wollte. Bei der Suche nach einem Studienplatz traf er auf den 48-jährigen Shkolnik, einen profunden Lehrer für Kontrapunkt, der über Bach promoviert hatte und Klassik wie Jazz unterrichtete. Ein gemeinsames Interesse an Musik aus dem ECM-Stall, wie Lyle Mays und Pat Metheny, Jan Garbarek und Keith Jarrett, für die Beatles und Klassik ließ in ihnen den Wunsch nach etwas Gemeinsamen entstehen. Im Proberaum der Hochschule begannen die beiden spielerisch herumzuprobieren. Obwohl fast eine Generation auseinander liegend, stellte sich schnell heraus, dass ihr Draht fürei-nander stark genug ist, um die jeweiligen Ideen und klanglichen Vorstellungen in ein Bandkonzept zu gießen.

Neben ihrer Experimentierfreude – Shkolnik spielte zeitweise sechs verschiedenen Synthesizer – kam ihnen auch das kulturell offene Klima im eigenen Land entgegen. „Bei uns hören viele junge Leute Jazz“, beschreibt Yael Hadany von Pannonica Jazz die Stimmung in Israel. Die junge Kulturmanagerin macht das Programm für die Jazz-Bar Beit Ha’Amudim. Diese liegt in einer verkehrsberuhigten Zone am Ran-de der „Weißen Stadt“, einem Quartier im Zentrum Tel Avivs, das in den 30erJahren des 20. Jahrhunderts im Bauhaus-Stil errichtet wurde. Zudem engagiert sich die politisch hellwache Frau intensiv bei der unabhängigen Stiftung „Pannonica“. Bei einem Label, das unter deren Dach angesiedelt ist, treffen Musiker alle Entscheidungen über ihre Aufnahmen komplett eigenständig. Hadany vermittelt und organisiert auch Auftrittsmöglichkeiten für Jazzmusiker und unterstützt potentielle Veranstalter – Barbesitzer, Hoteliers, Restaurantbetreiber – bei der Promotion, wenn diese Musiker/Bands aus dem Pannonica-Umfeld auftreten lassen. „Eine win-win-Situation für alle Beteiligten“, ist Hadany überzeugt. Unabhängig von öffentlicher Förderung, die insgesamt in Israel nur spärlich ausfällt, bemüht sich die autonome Kulturorganisation ein Netzwerk aufzubauen, um den Jazz auf allen Ebenen voran zu bringen. „Music is not a privilege, it’s a necessity“ lautet das Motto von Pannonica Jazz, die auch das Red Sea Festival mit anschiebt, und Yael brennt geradezu für diese Idee.

Eine Instrumentalistin, die häufiger im Beit Ha’Amudim auftritt – bevorzugt in Quartettbesetzung mit Piano, Bass und Schlagzeug – ist die Gitarris-tin Inbar Fridman. Mit ihrem französisch-israelischen Quartett, dem die Pianistin Camelia Ben Naceur, Laurent Chavoit (b) und Stefano Lucchini (dr) angehören, hat sie 2013 ihr Debütal-bum (Origin Records) veröffentlicht. Es wurde in den Pyrenäen aufgenommen und enthält eleganten, melodisch geschmackvollen Mainstream amerikanischer Prägung. New York, wo sie einige Zeit während ihres Studiums an der William Paterson Universität (New Jersey) verbracht hat, nennt Fridman als „meinen stärksten und anhaltenden Einfluss“. Als hungrige Musikerin, die den Austausch mit Kollegen und Kolleginnen sucht, findet sie in Israel nur begrenzt ausreichend Gigs, um ein Aus-kommen zu generieren. Auch international würde sie „gern den inoffiziellen Schlüssel finden, der mir die Türen zu Festivals und Jazztourneen öffnet“. Anfang des Jahres 2016 hatte sie erstmals einen Auftritt in einem bekannten Theater Tel Avivs, der vom Rundfunk mitgeschnitten worden ist.

Für Touristen und jüngere Urlauber ist auch der Shablul-Club interessant, weil er in der Party- und Shoppingmeile des alten Hafens von Tel Aviv, im Hangar 13 direkt neben dem angesagtesten Dance- und Electro-Club angesiedelt ist. Im bluesgetränkten, kraftvollen Fusion des Gitarrentrios Tritonus, das hier regelmäßig engagiert ist, finden sich neben Anklängen des Jazzrock der 80er-Jahre auch Einflüsse arabischer und nordafrikanischer Musikkulturen.

Seit Jahren suchen viele israelische Jazzmusiker ihr Glück außerhalb ihres Heimatlandes. Dieses bietet schon allein wegen seiner Überschaubarkeit nur begrenzt Auftrittsmöglichkeiten. Ein finanzielles Auskommen ist somit nur für wenige Musiker möglich und muss mit Unterricht oder kommerziellen Jobs ergänzt und aufgestockt werden. Das hängt auch mit dem schulisch-universitären Output an teils exzellent ausgebildeten Musikern zusammen, der beträchtlich zugenommen hat. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Rimon School of Jazz and Contemporary Music in Tel Aviv, die mit Berkeley kooperiert und die auch Fridman und Shkolnik besucht haben. Jazznachwuchs kreieren auch das ICM Conservatory und die Thelma Yellin High School in Jerusalem. Diese haben großartige Künstler wie den in Frankreich lebenden Pianisten Yaron Herman, den Bassisten Avishai Cohen, den Aktivisten und Musiker Gilad Atzmon (reeds u.a.), Omer Avital (b) oder Omer Klein (p) hervorgebracht, die allesamt in anderen Ländern leben oder zeitweise lebten.

Zurückgekehrt in sein Geburtsland ist der international renommierte Bassist Avishai Cohen. Er hat hinreichend Verbindungen, die ihm auch von dort aus die Beschäftigung sichern. Als einer der wenigen israelischen Jazzmusiker verbindet Cohen in seinem Spiel Einflüsse des Nahen Ostens und der israelischen Musik mit Fusion und zeitgenössischem akustischen Jazz. Allgemein orientieren sich viele Nachwuchsmusiker an amerikanischen Formen bis hin zu Fusion, Soul- und Electro-Jazz. Aber auch stilistische Entwicklungen, die in Europa ihren Ausgang genommen haben, lassen sich im Jazz aus Israel finden. Andere Einflüsse, wie kubanische und lateinamerikanische Traditionen, werden besonders von poporientierten Musikern aufgegriffen, wie man sie im Jerusalemer Yellow Submarine öfter erleben kann. Dieser selbstverwaltete Club, der sich über Musikun-terricht und ein Aufnahmestudio finanziert, ist breiter aufgestellt, als die spezialisierten Clubs in Tel Aviv. Als Zentrum für regionale und überregionale Rock- und alternative Popbands, für Weltmusik, Jazz und alternative Gruppen bis hin zu elektronischer Clubmusik, ist das in einer ehemaligen Kfz-Werkstatt angesiedelte Kulturunternehmen vergleichbar mit hiesigen Kultureinrichtungen wie dem E-Werk in Erlangen oder dem Schorndorfer Club Manufaktur. Unterstützt wird das Yellow Submarine auch über eine Jerusalemer Kulturstiftung, die städtische Festivals und Kultureinrichtungen fördert. In stilistisch offenen Bandprojekten wie dem innovativen „Microorchestra“ treffen dort Musiker verschiedener Richtungen aufeinander. Drummer Dov Rosen spielt außer in dem originellen Miniorchester, wo die Spieler mit verbundenden Augen auf Zuruf improvisieren, auch Rock und Afrobeat und in Punk- und Indiebands.

Mit dem neuen Album in der Tasche hat sich Niogi für 2016 vorgenommen, auch außerhalb ihres Landes, in Europa und auch Asien präsent zu sein. In umliegenden Ländern des Nahen Ostens ist es schwierig für die Israelis, wie Shkolnik die Verhältnisse beschreibt. „Wenn du einen Musiker aus der (besetzten, Anm.) Westbank für einen Gig einlädst, musst du Wochen vorher Anträge stellen, Genehmigungen einholen und Anfragen beantworten – und dann ist nicht sicher, dass er dann tatsächlich kommen oder sein Instrument mitbringen kann.“ Zudem wollen sich die beiden „auf eine feste Besetzung und kontinuierliches Arbeiten konzentrieren“, erläutert Abramov ihr Konzept. „Dann können wir musikalische Prozesse viel tiefer ausloten“, ist das ungleiche Duo überzeugt. Statt sich auf Experimente mit unsicherem Ausgang einzulassen, arbeiten die beiden lieber unabhängig voneinander noch mit anderen Besetzungen und an eigenen Ideen. Die „digital-analoge Heirat“, wie die Jerusalem Post in einem Bandporträt den Sound von Niogi beschrieben hat, ist das formale und künstlerische Herzstück des Quartetts. Damit bauen die zwei Musiker, die auch für die Kompositionen verantwortlich sind, auf Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auf – und gehen zugleich in punkto Vielseitigkeit und harmonischem Reichtum ein spürbares Stück darüber hinaus. Ob es auch für die Gitarristin Inbar Fridman ein Jahr wird, in dem sie zum Sprung auf die europäischen Bühnen und Festivals ansetzt, bleibt abzuwarten. Unterstützung findet sie auf jeden Fall bei Pannonica Jazz, das neben lokalen Eliten auch internationale Größen in Tel Aviv präsentiert und diese auch manchmal auf der Bühne bei Late Night Sessions im „Rothschild 12“ zusammenbringt. Spannend sind die Bands und die Musik, die aus Israel kommen, allemal – ein kultureller Exportschlager, der bei Licht betrachtet vielleicht sogar mit den berühmten Jaffa-Orangen mithalten kann.

Info: www.niogi.com, zur Clubszene: http://PannonicaProductions.com und auf Facebook

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