Im 18. Jahr des Münchner Jazz- und Klassik-Festivals „Klaviersommer“ gab es ernsthafte Bestrebungen, neue, unorthodoxe Programmakzente zu setzen. Doch die Mühe wurde nicht belohnt, oft blieben die Säle leer. Es schien, als fehlt in München für so ein Riesenprogramm mit beinahe 40 Veranstaltungen in zwei Wochen das Publikum. Typisch auch die Situation bei der hier rezensierten Aufführung von Carla Bleys epochalem „Escalator Over The Hill“. Während in Köln bei der ersten Wiederaufnahme seit über zwanzig Jahren die Philharmonie aus allen Nähten platzte, mußte man in München kurzfristig in den Kammermusiksaal des Konzerthauses Gasteig umziehen, damit die Alt-Avantgarde-Gruppe nicht vor leeren Rängen spielte. Ob die ausverkauften Großevents mit Oscar Peterson, Al Jarreau und Gidon Kremer in der Philharmonie zur Kostendeckung des schönen, aber unrentablen Restprogramms genügen? Da bedarf es in Zukunft wohl vermehrter Anstrengung, damit aus einer liebgewordenen Münchner Kultureinrichtung wieder ein Kult-Ereignis wird.
Eigentlich hielt man diese Komposition für unaufführbar. „Escalator Over The Hill“ von Carla Bley ist ein musikdramatisches Werk einer Jazzerin, geschrieben in den wirren Zeiten der späten 60er und frühen 70er Jahre. Realisiert wurde dieses Opus seinerzeit auf Schallplatte in einem Produktionszeitraum von mehr als zwei Jahren (1968-1971). Es handelt sich um einen Meilenstein des Jazz. Nie erreichte der Jazz bisher wieder diese kongeniale Kombination aus Komposition und Improvisation. Damals gehörten so bekannte Musiker wie John McLaughlin, Don Cherry, Charlie Haden und Paul Motian zum Ensemble, und Rockröhre Linda Ronstedt ließ sich nicht lange bitten. Man kann viel zur musikalischen Substanz dieses Werkes sagen, über die Katzensprünge in die Rockmusik hinein, über die Anleihen aus der frühen Musik von Kurt Weill, über das Sprachkonzept des Autors Paul Haines. Bley und Haines nannten dieses „Werk“ denn auch „a chronotransduction“, was sich nur mit Mühe und Not als „Zeitdurchführung“ eindeutschen ließe. Doch trifft dies magere Wort etwas vollkommen Richtiges. Es ist dieses „Werk“ ein vertikaler Zeitschnitt in und durch die Musikkultur, der in die horizontale Achse umgeknickt wird. Der Tonfall der Carla Bley spürt dabei den verschiedenen musikalischen Welten nach, die auch die Musiker in dieses Projekt miteinbrachten. Und dabei spielt Komik ebenso eine Rolle wie Melancholie. Zentraler musikalischer Einfall sind die sich drehenden, absteigenden harmonischen Fortschreitungen: Während die musikalische Aktivität sich steigert, sinkt zugleich die Tonhöhe, die Klangfarbe wird dunkler. Also auch innermusikalisch gibt es keine einfache Bewegung. Während des Münchner Klaviersommers brachte eine internationale Combo aus etwa 18 Musikern und Musikerinnen diese als unaufführbar geltende Chronotransduction tatsächlich auf die Bühne. Natürlich war die Gefahr groß, damit allein musealen Gelüsten Folge zu leisten. Doch dafür ist diese Carla Bley einfach zu schlau. Neue Musiker mußten zwangsläufig zu neuen Passagen leiten. Wie in der Ursprungsversion verwendet Bley die Musiker auch als Eigenschöpfer, als Material in einem ganz respektvollen Sinn. Die alten Anleihen eines Don Cherry in anderen Musikkulturen waren zum Beispiel durch neue Anleihen der neuen Musiker bei anderen Inspirationsquellen ersetzt. Und es sind genau diese Passagen, durch die es gelang, das Alte mit dem Neuen zu kombinieren. Carla Bley ist die Multilinguistin unter den Jazzmusikern der Gegenwart. Sie ist fähig, sich gleichermaßen mit dem Tango, der Rockmusik und der Neuen Musik auseinanderzusetzen. Und es gelingt ihr immer wieder aufs Neue, sich den verschiedenen Sprachwelten so zu nähern, daß kein peinlich imperialistisches Getue dabei herauskommt.