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Trompeterin Airelle Besson. In Münster zu hören mit Burgwinkel und Sternal. Foto: Stefan Pieper
Trompeterin Airelle Besson. In Münster zu hören mit Burgwinkel und Sternal. Foto: Stefan Pieper
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Die große Lust, sich überraschen zu lassen

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Der Paradigmenwechsel tat dem Internationalen Jazzfestival Münster sichtlich gut – auch bei seiner 25. Ausgabe
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Über eines freut sich Fritz Schmücker, künstlerischer Leiter des Internationalen Jazzfestivals, ganz besonders: „Das Publikum hat immer mehr Lust darauf bekommen, sich überraschen zu lassen.“ Die Verlegung des Festivals ins Münsteraner Stadttheater kam einem Paradigmenwechsel gleich. War es doch bei den frühen Ausgaben des Festivals – damals noch im Sommer in der Halle Münsterland – vor allem um die großen Namen aus Amerika gegangen, so kam fortan der Jazz aus Europa immer breitbandiger ins Spiel – eine Emanzipation, die zur 25. Festival-Ausgabe nach wie vor andauert. Und die rasend kurze Zeitspanne, in der im Vorfeld sämtliche Festivaltickets ausverkauft waren, zeigt: Man kann ein Publikum langfristig erobern, wenn man in seiner Programmatik nur konsequent bleibt!

Was in Münster aber keineswegs heißt, dass rigide ausgegrenzt wird: Michael Schiefel, ein gebürtiger Münsteraner, brachte seine herausragende und verquere Vokalkunst mit der perkussiven Leuchtkraft im Spiel des US-Vibraphonisten David Friedman in Berührung. Schiefel hat mit seiner Mischung aus Gesang, schrägen Texten, Vokalimprovisation und elektronisch unterstützter Bühnenperformance zu Recht in diesem Jahr den Westfalen-Jazz-Preis bekommen.

Als langjährig erfahrener Festivalleiter ist Fritz Schmücker bestens vernetzt – ein Aspekt, den er neben dem Erfahrungsgewinn als solchem am Älterwerden durchaus schätzt. Vor allem nach Italien hat er auf seinem Festival schon oft Brücken gebaut. Jetzt wachsen auch hier schon Generationen nach. Da trat Livio Minafra, der Sohn des großen Pino Minafra mit besonders humorgesättigten Klavierimprovisationen in einen Dialog mit dem südafrikanischen Trommler Louis Moholo.

Auch Großbritannien ist ein Brennpunkt innovativer Jazzkultur. Eine gereifte Koryphäe von der Insel ist der britische Pianist Keith Tippet. Und der führte sein Publikum auf eine introvertierte Reise mit, wo er in Messiaen-Anklängen die Tasten seines Flügels schwerelos behandelte, um später immer monolithischere Soundflächen mittels präparierter Effekte zu erzeugen.

Spielfreude entfalten, Wärme verbreiten, das Publikum woanders hintragen – das sind die beliebten Qualitäten des Münsteraner Jazzfestivals. Celine Bonacina hatte gleich mehrere Sternstunden in Münster. Die Französin aus Réunion bringt so viel ansteckende Leichtigkeit in ihrer Musizierauffassung mit. Und ihre Stimme, vor allem auf dem so ungemein sinnlich phrasierten Bariton-Sax, kann ihresgleichen suchen!

Auch das Konzert von Jasper van’t Hof, Markus Stockhausen und Patrice Héral zeugte von viel Spaßfaktor zwischen drei gestandenen Musikern, die nach einer sich in meditativem Wohlklang sonnenden Einleitung auch mal über sehr freie Improvisationen und ostinate Riffs fröhlich abrockten.

Beim Norweger Marius Neset und seiner norwegisch-schwedisch-britischen Formation fügten sich trickreich verschiedene stilistische Spurenelemente zusammen, etwa erfrischend unverbrauchte folkloristische Melodien und ebensolche harmonische Muster aus der Minimal Music. Nur zu gern mutierte das eine im fliegenden Wechsel zu etwas ganz anderem – und bot zuhauf Sprungbretter zu virtuosen kollektiven Improvisationen mit dem charismatischen Hornbläser im Mittelpunkt.

Auf internationaler Augenhöhe agierten in Münster auch die Musiker aus unseren Landen. Etwa der Ausnahme-Schlagzeuger Jonas Burgwinkel. In Münster wurde er zum rhythmischen Motor eines besonders ausgereiften und vitalen „klassischen“ Jazztrios – zusammen mit Niklas Anatolisch am Klavier und dem Bassisten Simon Tailleu. Hier ging eine lupenreine Interaktion in Burgwinkels rhythmischen, linearen und immer treibenden Ideenfeuerwerken auf dem Schlagwerk auf.

Und wo bleibt bei dieser Ästhetik des Schönen und Guten die ästhetische Provokation, die den Jazz ja auch ausmachen soll? In dieser Disziplin hatte ein weiteres Projekt mit einem nord-rhein-westfälischen Musiker die Nase vorn: Wenn der Essener Schlagzeuger Simon Camatta allein mit drei Bläsern die Musik von Thelonius Monk interpretiert, öffnen sich Tore hinein in Zeiten, in denen Jazz vor allem noch Avantgarde bedeutete. Schier unglaublich ist die Präzision, mit der das deutsch-italienische Quartett den ganzen Ecken, Kanten und Reibungen der Monk-Musik eine gleißend scharfe Kontur verleiht. Monks scheppernd-dissonantes Klavierspiel kann man eh immer nur ansatzweise nachempfinden (wenn man es kann). Trompeter Flavio Zanuttini, Tenorist Julius Gabriel sowie Florian Walter an Bassklarinette und Baritonsax erzeugen Bläsersätze, die wie ein hochenergetischer Block mit ganz viel Reibung und Spannung wirken. Camatta selbst setzt auf dem Schlagwerk groteske Akzente und treibt einen lässigen Swing in bestem Monk’schen Geist auf den Siedepunkt.

Simon Camatta ließ zwischen den neuinterpretierten Monk-Stücken noch ein paar anspielende Worte los über jene richtige politische Haltung zu aktuellen Ereignissen in unserem Lande und anderswo, wie er sie von seiner Zuhörerschaft erwartet. Die Teilnahme an einem Jazzkonzert durfte in diesem Moment also mal wieder Statement sein, um Flagge zu zeigen!

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