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Ein Schlagzeuger mit blauem Kopfband am Schlagzeug.

Billy Cobham erhielt die German Jazz Trophy und eröffnete groovend das Festival. Foto: Rainer Pfisterer

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Dreißig Jahre und kein bisschen leise

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Das Festival Jazzopen Stuttgart im Jubiläumsjahr – ein Resümee von Georg Lindner
Vorspann / Teaser

Mit einem neuen Besucherrekord von 57.000 Gästen sehen sich die Stuttgarter Jazzopen im 30. Jahr ihres Bestehens im Spitzenfeld europäischer Musikfestivals angekommen. Auf der großen Schlossplatzbühne gaben sich wieder Weltstars wie Sting und Lenny Kravitz die Klinke in die Hand. Ist Jazz nur noch ein Spurenelement im Spielplan des Festivals?

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Zumindest hierzulande ist diese Erfolgsgeschichte beispiellos. Binnen drei Dekaden haben sich die Stuttgarter Jazzopen von einem Jazz-Ereignis mit regionaler Strahlkraft zu einem Festival entwickelt, das sich im „Kreis der Top 3 der europäischen Festivals für Jazz and Beyond“ angekommen sieht, wie dem ansonsten eher bildgewaltigen Coffeetable-Prachtband „30 Years Jazzopen – The Book“ zu entnehmen ist, mit dem die Veranstalter das entsprechende Jubiläum feiern. Was die kuriose Sprachregelung besagen will: Auf Augenhöhe mit Montreux und Rotterdam stehen die Jazzopen im 30. Jahr ihres Bestehens da, im bundesweiten Vergleich mithin gar allein auf weiter Flur. 

Nun ist Statistik bekanntermaßen in vielfacher Hinsicht nützlich, auch wenn manch statistische Tatsache, je nachdem, in welchem Licht betrachtet, so gut zur Bestätigung einer Aussage wie zu deren Widerlegung dienen mag. Im vorliegenden Fall führt die Frage nach den Randbedingungen unmittelbar dazu, die unbekannte Größe im Faktor des Festivalprofils zu isolieren: „Jazz and Beyond“ – was ist damit gemeint? Eine Antwort gibt die Rückschau auf die diesjährige Jubiläumsausgabe der Stuttgarter „Jazz und Jenseits“-Festspiele. Zweifelsfrei der Sphäre synkopierter Musik des Augenblicks zugehörig war der Auftakt mit der Verleihung der German Jazz Trophy an Billy Cobham. Dass die von der neuen musikzeitung und JazzZeitung.de zusammen mit der Stiftung Kunst und Kultur der Sparda-Bank Baden-Württemberg ausgelobte Ehrung Jahr für Jahr zu Beginn des Festivals vergeben wird, hat Statementcharakter: Die Reihe der für ihr Lebenswerk geehrten Preisträger – darunter Wolfgang Dauner, Jean-Luc Ponty, Ralf Towner, Carla Bley, Dee Dee Bridgewater – liest sich wie ein Who’s Who des Genres. Keine Frage: Hier im SpardaWelt Eventcenter steht Jazz im Rampenlicht – und der 80-jährige Schlagzeuger wusste die Bühne bestens zu nutzen. 

Ebenso klar dem Jazz zuzuordnen waren Auftritte von Lee Ritenour und Dave Grusin, der McCoy Legends und der Jazzrausch Bigband an selber Stelle sowie das gesamte Festival-Programm im Bix Jazzclub. Ein etwas anderes Bild ergibt sich mit Blick auf die beiden Großbühnen. Im Alten Schloss, der zweitgrößten Spielstätte, gaben Al Di Meola (elektrisierend) und Marcus Miller (so gelöst wie inspiriert) lupenreine (Fusion-)Jazz-Konzerte erster Güte – historischer Charme und atmosphärischer Zauber des Renaissancearkaden-Innenhofs suchen ihresgleichen; regelmäßig animiert Stuttgarts schönste Open-Air-Location Musiker zu Live-Sternstunden. Selbes gilt (mit leichten Abstrichen) auch für Angélique Kidjo und Lizz Wright, wohingegen die US-Geschwisterband Lawrence und die Australier The Cat Empire ihre je eigene Definition recht pauschaler Tanzmusik vorstellten, in der Jazz höchstens als Spurenelement vorkommt. 

Ebenfalls ausverkauft, zumeist Monate im voraus, waren die Konzerte auf dem Schlossplatz, wo im Ehrenhof des Neuen Schlosses ein Venue für 7.500 Besucher hochgezogen wurde. Um dessen Bespielung war im Vorfeld mit harten Bandagen gekämpft worden, bevor die Jazzopen der EM-Public-Viewing-Fanzone ausgewichen sind. Ein Glücksfall ist Dauergast Jamie Cullum, der seit fast einer Dekade in kaum einem Jazzopen-Programm fehlt und einer der wenigen Jazz-Stars sein dürfte, der eine Auslastung dieser Kapazität verspricht. Dementsprechend war hier mit Lenny Kravitz und Sting ansonsten internationale Starpower angesagt, zudem als Festival-Premieren Herbert Grönemeyer mit den Stuttgarter Philharmonikern (durchaus bewegend) und Sam Smith (performativ stark, musikalisch epigonal). Allenfalls das Finale mit Parov Stelar und Meute darf nochmals einen dezidierten Jazz­anteil für sich reklamieren.

Mit 57.000 Besucherinnen und Besuchern vermeldeten die Jazzopen einen neuen Publikumsrekord, auf den vier Hauptbühnen habe die Auslastung 97 Prozent betragen. „Unser Publikum honoriert ganz offensichtlich die enorme Dichte und Qualität des Line-ups“, ließ sich Jürgen Schlensog zitieren. Mit seiner Rechnung, dass von anstehenden rund fünfzig Veranstaltungen „24 Jazz-Konzerte“ seien, liegt der Jazzopen-Impressario faktisch auf der sicheren Seite. Fast die Hälfte Jazz also? Dagegen steht, dass der größte Teil der Ticket­einnahmen, die zwei Drittel im 7-Millionen-Etat des Festivals decken, just mit der anderen Hälfte generiert werden dürfte. In Städten wie Düsseldorf, Heidelberg, Münster oder Dresden mag das von den Jazzopen beanspruchte Selbstverständnis jedenfalls für Stirnrunzeln sorgen. 

Was bleibt? Der Vorwurf, Jazz sei nur ein Feigenblatt im Spielplan, erscheint, wenn auch nicht aus der Luft gegriffen, so doch überzogen. Umgekehrt lässt sich schwerlich behaupten, Jazz stehe im Zentrum des Profils – dafür ist der Pop-Anteil zu dominant. Das Argument, Jazz sei die Wurzel dieser Kultur, wirkt nur bedingt stichhaltig, vor allem, wenn gleichzeitig betont wird, dass es auf Genre nicht ankomme. Dabei hat Schlensog recht: Entscheidender als stilistische Grenzen sind musikalische Offenheit, Neugier, Innovation. Sprich: Quersubventionierung ist legitim, solange die „Qualität“ stimmt. Hier ist aber gerade im Jazz-Bereich seit Jahren eine gewisse Mutlosigkeit festzustellen, entweder als Tendenz zum Gediegenen bis Saturierten (Bobby Watson) oder als Hang zum „Gimmick-Jazz“ (Immortal Onion x Michal Jan). Ausnahmen wie das Trio Paolo Fresu, Omar Sosa, Miklós Lukács oder Donny McCaslin (schlichtweg umwerfend!) bestätigten die Regel. Sehr positiv hingegen die Entwicklung der im Stadtgebiet verteilten kostenfreien „Open Stages“, etwa im Stadtpalais, wo Ausnahme-Schlagzeugerin Roni Kaspi wirbelte. Fazit: Dreißig Jahre – und nur selten leise. 

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