In der großen weiten Welt da draußen war Nickelsdorf bislang wohl nur ein paar Eingeweihten als Austragungsstätte eines Jazzfestivals bekannt. Nun findet sich die Gemeinde an der österreichisch-ungarischen Grenze täglich in den Schlagzeilen. Es begann damit, dass im Spätsommer einundsiebzig Flüchtlinge in einem Schlepper-Lastwagen bei Nickelsdorf erstickten, dem Ort, an dem sich heute immer mehr Menschen sammeln, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Als Ende August im über vierhundert Kilometer entfernten Pinzgau das 36. Jazzfestival Saalfelden mit Hilfe von Polit-Prominenz eröffnet wurde, da stand der Appell am Anfang, jedem fremdenfeindlichen Mob zu trotzen und doch bitte human, würdig, offenherzig mit den Flüchtlingen umzugehen.
Vielleicht war Jazz schon immer die Weltanschauung, die wir heute dringlicher brauchen denn je. In dieser Musik vereinten sich vor über hundert Jahren schon die gegensätzlichsten Kulturen. Dieser Ansatz ist geblieben, ist heute vielleicht präsenter denn je. Im Jazz geht es um Begegnungen, um grenzenlosen Austausch, um Neugier auf das Unbekannte, um Dialog. Zählte man all die Einflüsse und Stilmittel zusammen, die an vier Tagen in Saalfelden zu hören waren, käme eine Liste zustande, die fast nichts auslässt. Am Ende ist Jazz eher eine Lebenseinstellung, eine Haltung als ein Genre. Das von den Intendanten Michaela Mayer und Mario Steidl erstellte Festival-Programm zeigte, dass nichts Beliebiges bei dieser Vielfalt heraus kommen muss, sondern oft etwas ganz Organisches entstehen kann, wenn Musiker die Schlagbäume im Kopf oben lassen. Bei Ken Thomson and Slow/ Fast etwa kann man Jazz, Neue Musik und Rockelemente in Kompositionen von enormer Informationsdichte kaum mehr auseinanderhalten. Alles fließt, trotz der Komplexität der Musik. In Michael Riesslers Trio war viel über die vorgestanzten Rollen der von Pierre Charial gekurbelten Drehorgel vorgegeben, doch blieb die Musik ungemein beweglich, vital, dynamisch und entzog sich jedem Versuch, sie stilistisch zu definieren. Steve Coleman hat längst sein eigenes Genre erschaffen. Nun hat er seine Klangsprache erweitert, in dem er für eine Big Band schrieb. Das Ergebnis klang zwar charakterstark, aber viel gesetzter, altersmilder als erwartet. Vorwerfen muss man Coleman vielleicht nur, dass einzelne Sektionen seiner „Council of Balance“, etwa die Streicher, zu lange aus dem Geschehen herausgehalten wurden.
Während die ersten drei genannten Acts mit weitgehend Ausnotiertem überzeugten, stand bei fast allen anderen Formationen das Wechselspiel zwischen Form und Freiheit im Vordergrund. Nur die Gewichtungen waren unterschiedlich. Ob nun im Solo-Programm des Pianisten Matthew Shipp, in Teun Verbruggens „The Bureau of Atomic Tourism“ oder Chris Lightcap’s Bigmouth, bei Rob Mazurek and Black Cube SP, bei MOPDtK, Atomic, im Angelica Sanchez Quintet, bei JÜ with Kjetil Møster, dem Fire! Orchestra, Martin Küchen’s All Included, Régis Huby Equal Crossings oder im extrem feinfühligen Trio Graewe/Reijseger/Hemingway – das Verhältnis von Vorgegebenem und Spontanem war meist bestens austariert, die Übergänge zwischen Komponiertem und Improvisiertem flutschten nur so.
Bei all der filigranen Musik, die es in Saalfelden zu hören gab, war der Schlusspunkt des Programms ein erfrischend derber Rausschmeißer. James „Blood“ Ulmer erinnerte an sein damals bahnbrechendes „Are You Glad To Be In America?“, blieb im gewohnten Krächz-Krächz-Schrammel-Schrammel-Modus und ließ David Murray am Tenorsaxofon genug Freiraum zum ekstatischen Fiepen.