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Johanna Borchert und Band im Schauspiel Leipzig. Visuals von Benjamin Schindler. Foto: Susann Jehnichen
Johanna Borchert und Band im Schauspiel Leipzig. Visuals von Benjamin Schindler. Foto: Susann Jehnichen
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Erlebnisse für visuelle Ohrenmenschen

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Die 39. Leipziger Jazztage beschäftigen sich mit dem Bewegtbild
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Die Liaison zwischen Jazz und Film ist eine alte. Mit dem Beginn des Tonfilms im Jahr 1927, explizit mit dem Filmdrama „Der Jazzmusiker“ mit Al Jolson, war Jazzmusik ein ständiger Begleiter des Films. Der moderne Jazz fand ab Ende der 50er-Jahre mit Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ Einzug in die Filmgeschichte. Nicht zuletzt Miles Davis‘ Soundtrack ließ den Thriller legendär und zum Wegbereiter der Nouvelle Vague werden. Bis heute ist die vielfältige Klangsprache des Jazz interessant für Filmproduktionen. Aber auch umgekehrt finden – dank der Möglichkeiten der digitalen Welt – visuelle Entwicklungen Einzug in die Welt der Musik. Videos und digitale Bilder werden mehr und mehr als Gestaltungsmittel bei Performances verwendet und verschmelzen so mit Musik zu einem audio-visuellen Gesamtkunstwerk. Ein weiterer Aspekt ist das „Kino im Kopf“, das durch Musik assoziiert wird. Neben sogenannter E-Musik vermag es insbesondere der Jazz, Bilder im Kopf zu erzeugen.

Diese Phänomene aufgreifend und durchaus im Trend der Zeit hat sich der Jazzclub Leipzig anlässlich seiner 39. Leipziger Jazztage, die Anfang Oktober in der Musikstadt zu erleben waren, das Motto „Cinematic Jazz“ auf die Fahnen geschrieben. In zahlreichen Clubs der Freien Szene, in Kinos, Kirchen und (für die Hauptacts) im Schauspielhaus der Stadt spielten mehr als 70 Musiker/-innen und Visualisierungskünstler/-innen aus neun Ländern. Dem Motto entsprechend war die wohl authentischste Spielstätte das UT Connewitz, eines der ältesten Lichtspieltheater Deutschlands. (Übrigens, es wurde im Oktober mit dem Spielstättenprogrammpreis der Initiative Musik, der neuerdings „APPLAUS“ heißt, ausgezeichnet.)

Das spannendste Auftragswerk fand hier statt. Michael Wollny, Klavierprofessor und Nachfolger von Richie Beirach an der HMT Leipzig, traf gemeinsam mit dem Schlagzeuger Eric Schäfer auf das 1734 gegründete älteste norwegische Orchester: Det Norske Blåseensemble. Gemeinsam vertonten sie live Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm-Klassiker „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ (1922). Wollny nähert sich voller Respekt dem Meisterwerk des Kinos der Weimarer Republik und holt es in die Gegenwart. Da wird nicht ironisiert, sondern farbenreich untermalt. Neben Schäfer sorgen unter dem Klangarrangeur Geir Lysne zwei weitere Percussionisten für wirkungsvolle Effekte. Flöten, Trompeten, Posaunen, Tuba, Horn, Saxophon, Oboen und Kontrabass improvisieren punktgenau zur Handlung. Wollny und Schäfer setzen als „Steuermänner“ die Akzente, und im grausig-schönen Finale wird von allen ein elegischer Choral gesummt. Die berühmte Stecknadel hätte man fallen hören können. Cineastische Höhepunkte gab es mehrfach bei der diesjährigen Auflage der Leipziger Jazztage. Zu nennen wäre da die Neuvertonung von Lotte Reinigers Silhouettenfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ durch den Bassisten Renaud Garcia-Fons. Er und seine Band verführten in der morbiden Philippuskirche mit iranischer Laute, Tabla und indischer Flöte in die alte orientalische Welt von 1.001 Nacht. Mit seinem fünfsaitigen Kontrabass eröffnet Garcia-Fons grenzenlose Klangwelten, in denen Jazz und Weltmusik miteinander verwoben sind. Weitere klanglich-visuelle Erlebnisse boten die sogenannten Hauptacts, die diesmal renovierungsbedingt nicht in der Oper Leipzig, sondern im Schauspielhaus stattfanden.

Die große Bühne lieferte beste Voraussetzungen für Visualisierungskünstler. So hat der Medienkünstler Benjamin Schindler für Johanna Borchert eine zauberhafte Kulisse kreiert, die eine Sphäre bot, in der die Pianistin und Sängerin ungehindert zwischen Jazz und Pop, mal feenhaft mal kantig rockend navigieren konnte. Welch ein Kontrast war dagegen die New Yorker Post-Modern-Freak-Jazzband Sex Mob um den Slidetrompeter Steven Bernstein. Ihm scheint nichts heilig zu sein: Nino Rotas Schmachtfetzen aus Fellini-Filmen wie „Amarcord“, „La Strada“, „La Dolce Vita“ oder „8 ½“ werden gnadenlos zerpflückt und James-Bond-Themen der Skurrilität ausgesetzt.

Wie auch im vergangenen Jahr stellten die Veranstalter dem Nachwuchs erneut ein Podium, auf dem der Leipziger Jazznachwuchspreis der Marion-Ermer-Stiftung vergeben wurde. Im Konzert des frischgebackenen Preisträgers Evgeny Ring war das Prädikat „Nachwuchs“ allerdings nicht wahrzunehmen. Immerhin arbeitet er mit seiner erlesenen Band seit 2007 zusammen. Das ausgereifte Spiel zeugte von der Professionalität des 28-jährigen Altsaxophonisten. Zwischen Tradition und Moderne gibt jedes von Ring komponierte Stück seinen drei Bandmitgliedern improvisatorische Freiräume, die diese exzellent ausfüllen.

Dass Evgeny Ring in 27 Jahren auf eine ähnliche Künstlerkarriere wie Jazz-Trompeter Nils Petter Molvær zurückblicken kann, bleibt ihm nur zu wünschen. Der 55-jährige Pionier der Fusion von Jazz und elektronischer Musik stellte im Abschlusskonzert der Leipziger Jazztage (visuell sparsam umrahmt von Toro Knudsen) seine neue CD „Switch“ vor. Molvær setzt auf der Suche zwischen elektronischen und akustischen Klangwelten mit diesem Album einen Meilenstein. Der harte elektronische Sound, vom Rock-Drummer Erland Dahlen unterstützt, lässt an gnadenlos pulsierendes Großstadtgewühl denken. Die folkloristischen Klänge von Geir Sundstøl an der Pedal-Steel-Gitarre erinnern hingegen an die kleine norwegische Insel, auf die sich Molvær so gern zurückzieht. Kino im Kopf eben. Der Jazzclub Leipzig hat sich mit den diesjährigen Jazztagen selbst eine Steilvorlage für das Jubiläumsfestival im Jahr 2016 vorgelegt. Man darf gespannt sein!

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