Festivalmacher haben es nie leicht. Und erst Recht nicht dann, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Festival programmieren sollen, dazu noch eines der renommiertesten: das Jazzfest Berlin. Aus England reiste dafür Richard Williams an, aktuell eher aktiv als Sportreporter. Die Berliner Szene reagierte ein wenig nervös. Heraus kam ein attraktives Fest mit frischer vielklingender Jazzluft!
Williams’ entscheidender Vorteil: Seine Sozialisation und seine Netzwerk-Unabhängigkeit können für Überraschungen sorgen. Musiker aus über 30 Nationen traten an. Ein fruchtbares Gemisch. Da tut sich so ein Festival auf wie ein Gespinst aus Fäden und Knoten, die sich über die Hörer legen und die man verfolgt, wo man gerade ist. Da ist manchmal ein zu großes Wollen von Seiten der Festivalmacher kontraproduktiv und eine thematisch zielgerichtete Anlage zudem demotivierend, denn da verpasst man als Hörer ständig irgendetwas und gewinnt das Gefühl, auf einem heißen Stuhl, vor allem aber immer auf dem falschen Platz zu sitzen. Beim Jazzfest Berlin gab es natürlich auch Linien der Programmierung wie die Schiene mit den zahlreichen Klaviertrios. Doch sonst blieb das Festival eher locker gewirkt, jeder Hörer konnte so sein Blick- und Hörfeld selber setzen und deshalb schon gab es nicht mehr das Jazzfest Berlin 2015, sondern derer sehr viele. Und weil dem so ist, hat auch jeder Besucher seine eigene Logik an der Musik abmessen können.
Denn natürlich beziehen sich die auftretenden Gruppen aufeinander, sobald sie an das Ohr gelangen. Sie sind keine Einzelkonzerte, so wie eine Häusersiedlung ihren Charakter nicht am Einzelobjekt entfaltet, sondern im Zusammenhang. Jedes Festival fängt am Anfang an und endet unübersehbar einzigartig für jeden. An den Anfang stellte Williams das „Splitter Orchester“, das ein Stück des Posaunisten George Lewis „Creative Construction Set™“ herausimprovisierte. In einer Mischung von Techniken der Neuen Musik mit Gruppenkompositionsideen aus dem Jazz der 70er- bis 90er-Jahre. Modellhaft für die Anlage des gesamten Jazzfests Berlin. Man lässt sich leiten und leitet sich selbst. Dem folgte die Sängerin Cécile McLorin Salvant mit ihrem Quartett und schöpfte aus der gesamten Jazzgeschichte ihre Töne, ihre Phrasierung und ihre Kompositionsideen. Sie durchmaß mit der Stimme mehr als ein Jahrhundert Jazzgeschichte: Eine Stimme, die so flexibel ist, dass sie einer marktgängigen Schubladisierung lange widerstehen dürfte. Ihre Mitmusiker nicht weniger gut, alles Menschen, die niemandem etwas beweisen müssen. Man muss diese Musik nicht begründen, weil sie ihren Grund in sich selbst hat. Wem das zu wenig ist, kann sich immer noch von genügend Plattenfirmen einlullen lassen.
Der letzte Auftritt des ersten Abends war Vincent Peirani (Akkordeon) und Émile Parisien (Sopransaxophon) mit ihren Musikern vorbehalten. Hier Musik ganz im Jetzt, Jazz ganz aus der Gegenwart heraus gedacht: Wo vor allem die Metren zirkulieren, die musikalische Energie so gebündelt ist wie in einem überschweren Atomkern, der seinen Zerfall aufzuhalten versucht, indem er seine Energie in Strahlung umwandelt. Postpostneoneo! Und nun zieht man da seine Fäden in die kommenden Tage mit dem „Keith Tippett-Octet“ (abstrakte Musik), dem Miguel-Zenón-Quartet (zerschlagene Musik), dem Projekt mit Charles Lloyd (multirationale Magie), dem Tigran-Hamasyan-Trio (haarfeinste Lyrik trifft Baddadoom) bis zum letzten Abend: der „Diwan der Kontinente“ als musikalische Weltneuschöpfung aus dem Geiste des Miteinanders von Musikern aus aller Welt, wo sich arabische, aramäische und persische Sprache in Liebe vereinen. Mehr als 20 Musiker mit einem musikpolitischen Statement, gewonnen aus der Sache nicht einer Proklamation. Oder danach das Quartett mit dem Schlagzeuger Louis Moholo-Moholo, die zeigten wie man Improvisation zum Kochen bringen kann, wie man musikalisch-spirituellen Überdruck erzeugt, allein geleitet durch ein paar Ankerpunkte südafrikanischer Musikkultur. Wir berichteten über alles aktuell auf jazzzeitung.de
Ulf Drechsel hat als Moderator für den rbb am letzten Abend auch die politische Situation des Jazz akzentuiert. Für die offenen, warmen und doch belebenden Worte dankt man. Mit Williams und seinen eigeladenen Musikern wurde das Zeitfenster mehr als nur einen Spalt weit geöffnet. Auf das Programm und seine Überraschungen im nächsten Jahr darf man ungeduldig warten.