Berlin im November 1964: eine geteilte Stadt; der Zaun, die Mauer: eine Wunde: hier kommen etliche zu Tode, die derart menschengemachte, menschenverachtende „Grenzen“ überschreiten müssen. Berlin West: Platz der Luftbrücke: hier muß augenblicklich zweimal umsteigen, wer auf der U-Bahn Linie U 6 von Alt-Mariendorf nach Alt-Tegel fahren will, um ins „Silent Green“ zu gelangen, dem augenblicklichen Hauptspielort der Berliner Festspiele. Schuld sind Gleisbauarbeiten. 1949 machte die Luftbrücke Berlin-West zur Insel. 15 Jahre später, 1964: die ersten Berliner Jazztage; Jazz, Musik der Freiheit , Musik der Befreiung, der Grenzüberschreitung. Jazz in Berlin, das ist mehr als anderswo: Erforschung, Erlebnis einer Kultur der Grenzüberschreitung.
Das ist die historische Dimension dieses Festivals, das in einem pandemisch lichten Fenster zum 58. Mal stattfinden konnte.
Kuratorin im vierten Jahr ist Nadin Deventer, Anfang 40: Sie „kommt“ vom Organisieren her, wie so viele Frauen, hat beim Jazzclub in Dortmund maßgebliche Orga-Arbeit geleistet und ist, im Gegensatz zu vielen ihrer männlichen Kollegen, kein „glühender Fan“ im eigentlichen Sinne, sondern Quereinsteigerin, ähnlich wie Christine Stephan (sie leitet die „Jazzthetik“), Christiane Böhnke-Geisse (sie hat den Münchner Jazzclub „Unterfahrt“ auf die internationale Landkarte der preisgekrönten Veranstaltungsorte gebracht) oder Tina Heine (sie hat das Elbjazz-Festival in Hamburg miterfunden und kuratiert jetzt in Salzburg: „Jazz & the City“).
Nadin Deventer ist eine Netzwerkerin par excellence: Sie ist im Kontakt mit vielen Institutionen, Organisationen, Vereinen, denn ohne institutionelle Anbindung geht es nicht. Diesbezüglich agieren Nadin Deventer und ihr Team (das wird sie nicht müde zu betonen) als Teil der Berliner Musikfestspiele auf dem Felde der staatlich subventionierten Hoch-Kultur, obgleich „Jazz“ noch immer bisweilen subkulturelle Impacts transportiert, etwa, wenn Han Bennink und Pat Thomas mit einem Bumm-Tschak den Reigen in diesem Jahr eröffnen.
Han Bennink, nahe 80, ein Freejazz-Veteran der ersten Stunden, zelebriert Jazz in der ganzen Bandbreite von Ragtime bis frei flirrend. Pat Thomas hingegen, Jahrgang 1960, gehört zur zweiten Generation, spielte mit Tony Oxley, Steve Beresford, Derek Bailey und anderen, die, wie Bennink es im Interview vorführt, an der sogenannten „englischen Krankheit“ litten (pfff, tsss, grr, tick, blam, boing… pointilistische, vereinzelte Geräusche, die eine sehr reduzierte, intellektualisierte Musik ergeben). Aber Pat Thomas leidet nicht an der von Bennink augenzwinkernd sogenannten „englischen Krankheit“: er hämmert unentwegt Blockakkorde in die Tasten, entfacht einen tumultösen Klangorkan, wie dereinst Cecil Taylor (damals noch beim „Gegenfestival“ „Total Music Meeting“): Der Altsaxophonist Seymour Wright erinnert mit diesen immer den ganzen Tonraum auslotenden sheets of sound an den späten Coltrane oder Roscoe Mitchell: das mag man altmodischen Freejazz Approach nennen, aber die Wucht dieser Musik gleicht einem weit ausladenden Gnawa Ritual: Ahmed, der Name dieses Projekts, erinnert dann auch folgerichtig an den Weltmusikpionier Ahmed Abdul-Malik, der heute leider nur noch Wenigen ein Begriff sein dürfte (er spielte übrigens auch mit Coltrane).
Neu ist das also alles nicht. Neu hingegen ist die Frage: in welchen Räumen findet Jazz statt und wie prägen diese Räume die Musik, die darin entsteht?
Der aus Nürnberg stammende Schlagzeuger Oliver Steidle lebt und arbeitet in Berlin und ist, wie Bandkollege Frank Möbus (ebenfalls aus Nürnberg), Kathrin Pechlof aus München oder Gerhard Gschlößl aus Mainburg/NDB, froh, hier in Berlin zu leben, denn: „Obgleich man hier kein Geld verdienen kann, ist dieser Ort sehr inspirierend“, sagt Frank Möbus: Gemeinsam mit Oliver Steidle spielt er die „Killing Popes“: ergänzt durch die in München als Schauspielerin an den dortigen Kammerspielen arbeitende, in Berlin aber als Sängerin lebende Jelena Kuljic dekonstruieren sie, zerfetzen quasi Melodien, dahinfliegend aus einem nervösen Gespinst aus, wie es scheint, stroboskopisch generierten Rhythmen. Wahrlich „urbane“ Musik, hektisch, nervös, hochgradig energetisch aufgeladen.
Wie ist das also, wenn an einem Ort wie dem Silent Green, an dem bis vor Kurzem noch unbrauchbar Gewordenes, also Gewesenes, vulgo: Tote Menschen – darf man das sagen ? – „entsorgt“ worden sind, also an einem Ort, an dem das Sterben, der Tod, der Übergang von einem Aggregatszustand in einen Anderen eine Musik zelebriert wird, in der es um Aufbruch, um Genese von Neuem, bislang noch nicht Gewesenem geht? Oder ist Jazz am Ende doch lediglich wieder einmal das Vorstellen von Werken, die zum Konsum, zum Gebrauch geschaffen sind?
Passenderweise versuchen Vijay Iyer, Bobo Stenson und Kaja Draxler im Pierre Boulez-Saal, einem Kammermusiksaal in Berlin-Mitte, diese Frage erst gar nicht zu stellen, denn hier ist klar: Hier wird große Kunst präsentiert, die andernorts bereits auf „amtlichen“ Labels, auf Schallplatten und CDs verfügbar ist, während sich das Trickster Orchester in der Kuppelhalle des Krematoriums ganz nonchalant und beinahe nebenbei ebendieser Frage stellt: wie können Komposition und Improvisation, generiert von Menschen aus den unterschiedlichsten Musiksozialisationskontexten einen lebendigen Transformationsprozess sowohl bei den Musikant*innen, als auch bei den Konsument*innen in Gang bringen, sodass am Ende nichts mehr ist, wie gewesen?
Schlagzeuger Ketan Bhatti und Dirigentin, Pianistin und Sängerin Cymin Samawatie wollen ebendies: sich ganz und gar dem Augenblick, dem Raum und dem Vibe aussetzen, um eine Musik aus dem Augenblick zu generieren mit Versatzstücken aus dem Gepäck der Beteiligten. Diese Musik könnte und sollte auch genauso gut bei den Kassler oder den Donaueschinger Musiktagen präsentiert werden: hochkreativ und anregend.
Leider etwas verloren und abseits: das Hannes Zerbe Jazzorchester im kleinen Sendesaal des RBB: Zerbe, einer der Heroen des DDR-Jazz und Freund Hanns Eislers, ebenfalls nahe 80, bot konzertant und erwartbar vor einem eingeschworenen, an der Feier gewordener Historizität gemeinsam älter gewordenen Publikum ebendiese Querbezüge zur Musik Schostakowitschs, Strawinskys oder Eislers: Diese Musik muss in den Pierre Boulez-Saal oder eben: in die Betonhalle des Krematoriums, um die Kontraste hörbar, erlebbar zu machen, um die es hier geht. Aber Nadin Deventer macht auch vieles richtig: die Reizüberflutung, die sie sich und dem Publikum zumutet, spiegelt ja unsere Jetzt-Zeit perfekt wider: 22 Live-Konzerte, 10 Livestreams, Debattenpannels und Zuspielungen aus den ARD-Anstalten auf weiteren Leinwänden – wer soll das alles hören? Dass die Nürnberger Gitarristin Monika Roscher aus dem BR-Studio 2 oder das Rainer Böhm Sextett aus Freiburg durchaus auch Interessantes zu bieten haben, gerät hier zum Nebenbei Sound, wenn man so will zum „Beifang“ beim Gang zur Toilette. Das ist schade und wirft aber auch wieder so eine Frage auf: Wie viel ist genug, und wann ist es zu viel? Mit seinen „Secular Psalms“ beschließt auch der Trompeter Dave Douglas diesen Parforceritt Jazzfest Berlin. Allerdings sollte es zukünftig wohl besser „internationales Musikmeeting“ heißen.