„Die größte Schau der Welt“ heißt ein heute eher schwer erträglicher Zirkus-Film von 1952. Doch der Titel kam dem Fernsehzuschauer in den über vier Stunden der Übertragung der Eröffnungsfeier unweigerlich in den Sinn. Doch nicht nur „Größe“ beeindruckte – das Niveau der gesamten Feier breitete Europas, Frankreichs und den Pariser Kulturreichtum aus.
Größer als jede Grande Opéra – Zur Eröffnung der Olympiade breitet Paris seinen europäischen Kulturreichtum aus
„Wer hat, der hat“ muss das künstlerisch „grenzenlos“ eingestellte Team um den französischen Olympia-Manager Tony Estanguet sich dementsprechend vor Jahren gesagt haben. Also wurde gezeigt, genutzt und aufbereitet – und das wie!
Nicht nur die Grundidee „Alle Athleten auf Booten in einem Sechs-km-Seine-Korso statt Stadion“ frappierte – und das bedeutete immerhin über 300.000 Zuschauer, davon 220.000 Freikarten, alles mitten in der Stadt, am Ufer, auf Tribünen und dann weltweite Impressionen zwischen Tahiti und Versailles. Letzteres kam auch bei den Dimensionen der Rieseninszenierung in den Sinn. Aber Thomas Jolly, der künstlerische Leiter der Feierlichkeiten, setzt als Folie nicht auf französischen Louis-XIV.-Glamour, wie in Corbiaus fabelhaftem Film „Der König tanzt“, sondern auf ein „Die Republik tanzt und zeigt…“ – betont ohne jede nationale Front! Und wenn man schon die Heimat der Grande Opéra ist, dann eben bitte „groß“: also fast vier Stunden vielfältigst durchkomponierte Musik, ein bunt wechselnder Sound-Teppich des nicht herausgestellten Arrangeurs und Komponisten Victor le Masne – und dazwischen Lady Gaga im rosa Puschel-Gewimmel auf golden ausgelegter Ufertreppe mit „Mon truc en plumes" von Zizi Jeanmaire, der vor vier Jahren verstorbenen französischen Balletttänzerin, Schauspielerin und Chanson-Sängerin; nach Gaga dann Opéra-Starsopranistin Marina Viotti mit Bizet-Carmens Warnung vor „L’Amour“, nahtlos verbrämt mit der französischen Heavy-Metal-Band Gojira auf herausragenden Fenster-Balkonen der Concierge, dazu in den anderen Fenstern x-fach die hingerichtete Marie-Antoinette mit dem eigenen Kopf in den Händen, chorisch „Ça ira“ singend und plötzlich ein blutiger (Papier-)Regen, denn im Gebäude warteten damals die Verurteilten – bei aller Grandiosität der Leitlinien der Revolution von 1789 gab es eben auch den „terreur“ – wiederum konterkariert von der mitreißenden Nationalhymne „Allons, enfants…“, die die Mezzosopranistin Axelle Saint-Cirel in Bleu-Blanc-Rouge vom Modehaus Dior auf dem Dach des Grand Palais singt.
Die technisch exzellente Bildführung mit über 100 Kameras machte den strömenden Regen durchsichtig und zeigte, dass nahezu überall getanzt wurde – in vielfältiger Choreographie von Maud Le Pladec. Ohne jeden Zeigefinger wurde dabei auch ein Olympia-Aufholbedarf abgearbeitet: tanzend präsentierte die LBGTQA+Neue-Mode-Szene sich auf einem mehr als „bunten“ Seine-Brücken-Laufsteg. Noch gewichtiger ein Zweites: erstmals treten fast gleichviel Athletinnen wie Männer an; alle fuhren an Großkopien berühmter Frauen von Louvre-Gemälden vorbei, etwa der Madeleine, gemalt von Marie-Guillemine Benoist im Jahr 1803 oder Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern, ursprünglich um 1594 entstanden. Diese Wiedergutmachung unterschätzter Frauen gipfelte in zunächst zehn leeren Podesten – aus denen vergoldete Statuen von weiblichen größen der Geschichte emporfuhren: von Christine de Pizan (1365 – 1431/1440), der ersten selbständigen Schriftstellerin, über die guillottinierte Olympe de Gouges bis zu Simone Veil.
Davor eine andere Kultur-Brücke: Gemeinsam traten der französische Mega-Popstar Aya Nakamura und das Orchester der Republikanischen Garde, begleitet von 36 Chorsängern der französischen Armee nach Feuerwerkszauber auf und mixten „Pookie“, „Djadja“ sowie Charles Aznavours „Formidable“ und „La Bohème“ – auf der Pont des Arts, der das Institut de France mit dem Louvre-Museum, also die akademische Welt mit den Künsten verbindet. Durchgängig: TV-Spots mit Pariser Sehenswürdigkeiten, illuminiert etwa das Théâtre du Chatelet und das Théâtre de la Ville.
Auf einer kleinen Seine-Insel breakdancte derweil Counter-Weltstar Jakub Józef OrliĆski ein wenig und sang dazu „Viens, Hymen“. Auf einem Uferteil vor der ehemaligen Münze führten weit über einhundert Jugendliche rhythmische Wasser-Stampf-Tänze zu fetzigem Sound vor – im reizvollen Kontrast zur kompletten Tanz-Garde des „Moulin Rouge“, die einen Can-Can à la Offenbach hinlegten. Dazu kontrastierte dann wieder ein Innehalte-Moment: auf einer kleinen dunklen Insel sang Frankreichs Pop-Star Juliette Armanet ein anrührend utopisches „Imagine“ neben einem brennendem Klavier. Und „Our World on Fire“ wurde nochmals eindringlich präsentiert: auf einem langen Dance-Floor-Schiff fetzte eine große Truppe einen hochexpressiven zeitgenössischen Mix von „Power-Gewalt-Tod“ hin, der in Blutrot endete − Hitzetod des Planeten oder Krieg-aller-gegen alle?
Vieles mehr hat der Künstlerische Leiter Thomas Jolly kreiert. Durchgängig war ein geheimnisvoll unkenntlich maskierter Fackelträger über Pariser Dächer, durch die Opéra, eine Szene von „Les Misérables“ und den Lesesaal der Bibliothèque Nationale samt jugendlich-amouröser „Ménage-à-trois“ via Buchtiteln unterwegs. Im dann schon nachtdunklen Paris ritt er dann auf einem Sci-Fi-KI-Clon eines Pferdes auf der Seine zur endgültigen Eröffnung, übergab dort die Fackel an Sportstars und dann die Flagge zu guten Reden, Eid und Eröffnung. Singulär der Einspieler: jede Medaille hat im Mittelpunkt ein grau-eisernen Sechskant – originales Metall von einer Reparatur des Eifelturms. Anrührend geriet auch die Entscheidung, die Fackel von einem anwachsenden Team internationaler Sport-Legenden auf der Seine zurück, vorbei an der leuchtenden Louvre-Pyramide ins Zentrum der Tuilerien tragen zu lassen, musikalisch zunehmend größer untermalt von einer Neukomposition des Disco-Hits „Supernature“ von Jean-Marc Cerrone aus dem Jahr 1977, arrangiert für 150 Musiker. Doch inmitten der hochwallenden Überwältigung ein Innehalten: als Vorletzter hielt ein hundertjähriger Olympia-Teilnehmer im Rollstuhl die Fackel. Zum hochsteigenden Fackel-Ballon schwenkten dann Bild und Ton in die erste Queretage des Eifelturms. Dort trat Céline Dion hinreißend elegant als Grande Dame auf und sang „Hymne à l’amour“, das berühmte Werk von Édith Piaf, mit aller vokalen Grandezza, die das Finale mitsamt Laser-show endgültig in den Rang des Außergewöhnlichen katapultierte. Nie dominierende, vielmehr dienende Technik, die Stadt, Sportler, Kultur, Musik – ein Gesamtkunstwerk mit Alleinstellung war zu erleben – merci!
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