Immer mehr gute Musiker, immer mehr gute Musik, aber immer weniger Wege, sie zu vermitteln und zu verbreiten – das ist die Lage im Jazz. Neben den wenigen gut laufenden Clubs und den im Trend liegenden Wettbewerben kommt so vor allem den Festivals die Aufgabe zu, den Jazz aus der Falle des Elitären zu führen. Sie haben die Chance, aktuelle Strömungen im sich immer mehr auffächernden Spektrum zu bündeln, zu veranschaulichen und zu präsentieren. Wie das aussehen kann, demonstrierte der 7. Burghauser Europäische Nachwuchs-Jazzpreis, mit dem die 46. Internationale Jazzwoche Burghausen am 17. März begann. Unter den fünf von der Jury fürs Finale ausgewählten Bands befanden sich drei Trios und ein Quartett mit Gitarre, dazu kam ein Klaviertrio. Kein Zufall: Die Gitarre hat vor zwei Jahren das Klavier als beliebtestes Einstiegsinstrument abgelöst, ein Trend, der auch im Jazz durchschlägt. Bezeichnend, dass auch im Münchner BMW Welt Jazz Award, der sich stets ein möglichst aktuelles Motto sucht, nun im Rahmen von „Playing My Guitar“ zwei Gitarrentrios im Finale stehen.
Dass die musikalisch eindrucksvollste und reifste Band im Burghauser Wettbewerb das Holon Klaviertrio war, sich die Jury aber mit dem Trio Malstrom für den innovativeren, aber auch noch etwas ziellos wilden Nachwuchs entschied, tut nichts zur Sache. Obwohl die Veranstaltung erstmals Eintritt kostete, war der Stadtsaal rappelvoll, und das Publikum begeistert. Ein aktuelles Thema mobilisierte auch ohne bekannte Gesichter die breite Öffentlichkeit.
Die Probleme des ältesten kontinuierlich bestehenden A-Festivals in Europa begannen mit dem regulären Teil. Der Eröffnungsabend warf das grellste Licht darauf. Der italienische Soulbarde Mario Biondi, in seiner Heimat mit mehreren Nummer-Eins-Titeln und -Alben ein Star, hierzulande aber eher unbekannt, zog von vorneherein nicht besonders. Sein Auftritt vergrätzte dann auch viele derjenigen, die gekommen waren: Der Sizilianer verfügt zwar über eine beachtliche, Mainstream-taugliche Stimme, mit der er von Lou Rawls und Tony Bennett bis zu Barry White oder Joe Cocker vieles anklingen lassen kann. Doch abgesehen von den kreuzbraven Arrangements hatte man keine Minute den Eindruck, dass Biondi fühlt, was er da in der Fremdsprache Englisch singt, und so sprang auch kein Funke über.
Alte Erfolge zählen eben schnell nicht mehr, das ist nicht nur im Fußball, das ist auch bei der Jazzwoche so. Die 1.400 Zuschauer fassende Wackerhalle, in der die großen Konzerte stattfinden, will an vier Abenden gefüllt werden, was die veranstaltende IG Jazz in der 18 .000-Einwohnerstadt seit jeher über zugkräftige Namen versucht. Doch die großen Alten sterben aus, und von den Jungen, seien sie noch so überragende Talente, schaffen es – wegen ihrer schieren Zahl wie wegen der Krise der Musikindustrie – nur die wenigsten, ein die Massen erreichender Star zu werden. Jamie Cullum, Gregory Porter und Esperanza Spalding, denen das zuletzt gelang, waren schon in den vergangenen beiden Jahren in Burghausen, heuer fand sich nun kein Interpret dieser Kategorie mehr. So versuchte man es in der Hoffnung auf Zugkraft mit dem gewohnten bunten Name-Dropping-Gemüseladen, insgesamt mit unbefriedigendem Ergebnis. Ein Haar in der Suppe ließ sich bei fast allen Konzerten finden.
Ob nun Kenny Garrett eine dreiviertel Stunde lang mit zunehmend nervtötendem Hochdruck-Overplay diesen Europäern wieder einmal zeigen musste, was Jazz ist (und dass er der legitime Coltrane-Erbe ist), bevor er von der Demonstration von Musik doch noch zur Musik überging und eine betörende halbe Stunde filigraner Jazzaktualität anfügte. Ob die Fusion- und Acid-Jazz-Veteranen Spyro Gyra und Incognito mit ihren soliden, aber viel zu glatten Auftritten auf langweilende Weise in der Vergangenheit stecken blieben. Ob die nordische Elfe Rebekka Bakken trotz schauspielerischer Verve absehbar am Grundproblem ihres Projektes scheiterte, ausgerechnet die Songs des Meisters des schnoddrig Hingeworfenen Tom Waits durch die HR-Bigband aufbrezeln zu lassen. Oder ob die diesjährige Masterclass-Riege der Strata-East All-Stars um den Trompeter Charles Tolliver zwar eine hochinteressante Zeitreise unternahm – was uns heute als eher harmlose Musik entgegenkommt, bedeutet für diese Musiker als Protestbestandteil des Black Movements Anfang der Siebziger ein prägendes Lebensdrama –, aber schlicht nicht mehr den heute üblichen handwerklichen Standards genügte. Selbst dem vergnüglichen Auftritt des Bop-Saxofonisten Craig Handy mit dem famosen Bluessänger Kevin Mahogany als Gast konnte man entgegenhalten, dass die Verknüpfung des New-Orleans-Erbe mit dem Orgel-Soul von Jimmy Smith ein bisschen an der allzu altbackenen Stückauswahl und der unscheinbaren Rolle des Organisten Kyle Koehler krankte.
Es ist bezeichnend, dass für den Höhepunkt dieser Burghausen-Woche der 70-jährige Monty Alexander sorgte. Nicht nur, weil sein Harlem Kingston Express seine beiden Welten der afrokaribischen Rhythmik und der New-Yorker Jazzmoderne ebenso unterhaltsam wie durchaus modern verknüpfte. Vor allem hatte und vermittelte seine eng im Halbkreis um ihn versammelte Band so viel Spaß am Musizieren wie keine andere. Mag sein, dass am Samstag im Stadtsaal das Duo Michael Wollny und Heinz Sauer sowie die britischen Anarchojazzer Get The Blessing auf dieser Stufe rangierten, wer sich indes für das parallel laufende Konzert in der Wackerhalle entschieden hatte, bekam davon nichts mit.
Die jugendliche Klammer des Festivals, der einleitende Nachwuchswettbewerb und der abschließende „Next Generation Day“, funktioniert. Doch für die großen Konzerte wird man auch in Burghausen umdenken müssen: In einer Landschaft, in der der Jazz – nicht zuletzt durch die Kapitulation der Medien vor der Quote – nicht inhaltlich, aber von der Wirkung her immer noch elitärer wird, kann man nicht mehr nur mit Namen, da muss man auch mit Themen arbeiten. Dazu wird es Stehvermögen des nach wie vor hingebungsvollen, von gut 200 Ehrenamtlichen getragenen Teams der IG Jazz rund um Herbert Rißel und den altgedienten Programmchef Joe Viera brauchen. Doch Mut hat noch meist über Routine gesiegt.