In keinem anderen Festival ist die jüngere deutsche Jazzgeschichte derart präsent wie bei den Leipziger Jazztagen. 1976 gegründet, waren die Jazztage Sammelbecken und Heimat für die DDR-Kreativen und gleichzeitig das Fenster in den Westen, sowohl was die amerikanischen Stars anging, als auch die westdeutschen Kollegen. Die 40. Ausgabe der Leipziger Jazztage stand bewusst in dieser historischen Tradition und präsentierte zum einem den internationalen „State of Jazz“, zum anderen spürte sie den Lebenslinien ostdeutscher Jazzmusiker nach und damit ihrer eigenen Vergangenheit.
Ein geradezu historisches Konzert gab es in der neu renovierten Kongresshalle am Zoo, die bereits in den 70er-Jahren der Hauptspielort der Jazztage gewesen war. Dort wo erst wenige Tage zuvor „der Löwe los war“ – im Zoo war tatsächlich ein Löwe seinem Käfig entkommen und musste erschossen werden –, hatte der Tastenlöwe Joachim Kühn zusammen mit seinem 15 Jahre älteren Bruder und Klarinettisten Rolf Kühn zu einem beispiellosen, fast vier Stunden dauernden Konzert eingeladen.
Mit ihrem Duo, ihren jeweiligen aktuellen Formationen – etwa einem Klaviertrio mit Eric Schaefer (dr) und Chris Jennings (b) oder einem Quartett mit Christian Lillinger (dr), Ronny Graupe (g), Johannes Fink (b) – sowie dem Special Guest Tomasz Stanko und der Cellistin Asja Valcic verorteten die Kühn-Brüder ihren expressiven und hoch virtuosen Jazz eindeutig in die Stadt ihrer frühen musikalischen Sozialisation, Leipzig. Die Konfrontation der Leipziger Jazztraditionen – es gibt hier nicht nur Bach und Mendelssohn – gelang auch in anderen Konstellationen. Etwa in dem Duo Nils Wogram/Joe Sachse, oder in dem einzigartigen Projekt des „Birdman-Drummers“ Antonio Sanchez mit Tänzerinnen des Leipziger Balletts.
Dieses Projekt mag symptomatisch für die Fähigkeit der Leipziger Jazzmacher sein, Themen zu setzen und erfolgreich in eigene Produktionen zu investieren. Angefangen bei Bert Noglik, der die Leipziger Jazztage von 1992 bis sage und schreibe 2007 prägte, bis hin zum heutigen Leiter Stefan Heilig und seinem Team. Ein weiteres Beispiel: Bei der 33. Ausgabe im Jahr 2009 gelang dem Transatlantic Freedom Suite Tentet ein direkter Brückenschlag zu den 14. Leipziger Jazztagen von 1989, die inmitten von Aufbruch, Spannung und – das wusste man ja damals noch nicht – friedlicher Revolution stattgefunden hatten. Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky hatte damals eine Protestnote gegen Abhörpraxis und Zensur auf der Bühne verlesen – etwas bis dahin Undenkbares. 2009 trug er denselben Text auf der Bühne des Leipziger Opernhauses wieder vor, unterstützt von zehn Musikern unterschiedlichster musikalischer und geografischer Herkunft. Michael Ernst schrieb damals in der Jazzzeitung: „Um Petrowsky und Günter „Baby“ Sommer versammelten sich brillante Kollegen mit ihrer tönenden Botschaft. Ein einziges Konzert, das so viele Politikerreden in den Schatten stellt!“
Vor der Mauer – nach der Mauer hieß das Programm des legendären Schlagzeugers „Baby“ Sommer in diesem Jahr und wieder gelang es ihm, keine DDR-Jazz-Postamente aufzustellen. Mit den jungen Musikerinnen Walburga Walde und Julia Kadel interpretierten Sommer und sein Kompagnon Friedhelm Schönfeld Jazz als zeitgenössische Musik.
Zeitgenössisch im besten Sinne war auch das Bad Plus Trio, das die mittlere Generation auf dem Festival präsentierte. Unnachahmlich ihre minutenlang aufgebauten Klang– und Rhythmus-Kulminationen, die nach wie vor zum Besten gehören, was amerikanischer Jazz heute zu bieten hat. Mit seiner Mischung aus Innovationskraft, Internationalität und kreativer Heimatverbundenheit hat das Leipziger Festival gute Chancen, auch in Zukunft Opernsaal und Kongresshalle zu füllen.