Es kommt schon auf die Einheit von den richtigen Dingen an, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort funktionieren, und diesbezüglich stimmten im großen Festivalzelt im Moerser Schlosspark jahrzehntelang die Parameter. Anders wird der Charakter des Festivals in der künftigen Festivalhalle auf jeden Fall sein. Aber warum jetzt schon darüber spekulieren! Viel wichtiger war es doch, das jahrzehntelang liebgewonnene Ambiente noch einmal intensiv aufzusaugen. Den typischen Geruch nach feuchter Erde und frühlingshafter Vegetation einzuatmen.
Die Hitze zu spüren, sobald die Sonne auf die Planen scheint. Über die alten Holzpritschen der Tribüne laufen oder mal draußen auf der Wiese herumsitzen, während man eh noch ganz viel von der Musik drinnen hört. All dies noch einmal angucken, riechen, fühlen. Dass die musikalische Programmierung weiterhin fabelhaft sein wird, darf man bei der Kuratierung durch Reiner Michalke als gegeben voraussetzen.
Und der Abschied vom bisherigen Ort wurde nun wirklich in würdevoller Manier begangen. Man wird sich lange daran erinnern, wie das Arditti String Quartet die Luft brennen ließ, als es in einer Komposition von John Zorn seine schneidenden Klangflächen zu elektrisierender Glut verdichtete. Viele Menschen, die so etwas noch nie vorher gehört haben, springen danach zu begeisterten Ovationen auf, gieren nach Platten dieses Ensembles, wollen mehr darüber wissen. John Zorn hatte am ersten Festivalabend ein regelrechtes Festival im Festival realisiert und ließ die Ardittis in seiner Komposition die Ideenwelt uralter Alchemisten aus dem Mittelalter reflektieren. Der New Yorker John Zorn waltet in Moers vor allem als Komponist, der vermitteln und weitergeben will und die anderen Mitglieder seiner „Community“ nach vorne lässt – etwa einen überragenden Vokalisten Mike Patton mit seiner frenetischen Urschrei-Expressivität. Die Brachialität, mit der Zorn provozierte und verstörte, lebt heute nur partiell. Sie ist Teil in einem riesigen Kosmos, der auch freundlich und eingängig sein darf, sich gerne rockig-frech, lyrisch und cineastisch gebärdet. All das macht Zorns Allstar-Combo in Moers hautnah erfahrbar.
Manchmal, wenn alles so richtig groovt, rockt und überkocht, wollen die Menschen auch tanzen. Und jeder Band tut es gut, wenn das Publikum vor der Bühne doch mal in Fahrt kommt. Aber der Raum vor der ersten Zuschauerreihe muss wie die Gänge frei bleiben. Dafür sorgen die freundlichen Wachtposten, die in jedem Moment das Publikum mustern und bei jeder Verfehlung sämtlicher strenger Auflagen einschreiten. Auch auf diesem Festival, das einst aus dem denkbar emanzipatorischsten Geist heraus geboren wurde, verselbständigt sich die Disziplinargewalt.
Wie gut, dass der Samstag von „The Dorf“ eröffnet wird. Denn diese wohl relevanteste Groß-Combo aus der regionalen Ruhrgebiets-Szene knüpft stimmig an jenen Community-Gedanken an, der in John Zorns verschiedenen Besetzungen lebt. Begeisterte Musiker unterschiedlicher Couleur, allesamt bestens vertraute Gesichter und ausgeprägte Charakterköpfe leisten auf ihren Instrumenten Fantastisches – das macht dieses vom Münsteraner Jan Klare begründete Ruhrgebiets-Dorf aus.
Sidsel Endresen, die norwegische Vokalistin, agiert mit ihrem Landsmann, dem radikalen Saiten-Zauberer Stian Westerhus in magischem Gleichklang. Wie sehr geht hier die Rechnung auf, wie sehr schaffen es hier zwei Künstler, mit scheinbar abseitigster Kunst so unfassbar plausibel zu wirken und ihr Publikum restlos in all dies hineinzuziehen. Endresens dunkle, von rätselhafter Magie aufgeladene Stimme trifft auf Klänge, die man sich nicht vorzustellen wagte. Eine Art Schamanengesang auf der einen Seite, der manchmal wie eine unbekannte Sprache aus fernen Welten oder dadaistische Lautpoesie anmutet. Auf der anderen Seite ein Ozean aus Verzerrungen, Rückkopplungen, Störfrequenzen, Tiefbasstönen. Material, welches Westerhus ausforscht, dekonstruiert und poetisch neu vernetzt. Eine ganz große Begegnung.
Und es leben in Moers viele neue Ansätze von experimenteller Rockmusik. Aus Frankreich kommt Caravaggio – und diese Band ließ sich einst von der Progrock-Formation King Crimson inspirieren. Unlängst hat das Hören von Portishead wohl jene Emotionen ausgelöst, welche die Band in Moers zu einem Traumlabyrinth aus düsterer Klangmagie antreibt.
Wer mit so vielen hochkarätigen Eindrücken bombardiert wird, braucht manchmal einen erfrischenden Katharsiseffekt. In punkto Lautstärke spielt das Trio „Nohome“ jede Death-Metal-Band locker an die Wand. Doch Caspar Brötzmann, Marino Pliakas und Michael Wertmüller beackerten ihre Instrumente nicht nur extrem laut, böse und schnell, sondern auch akrobatisch differenziert.
Und dann ist noch einmal ein Duo ganz groß: Evelyn Glennie und Fred Frith finden auf der Moerser Bühne wieder zusammen. Damit kommt die zweite Traumbegegnung nach Endresen/Westerhus zusammen. Verglichen mit ihrem Auftritt an diesem Ort vor acht Jahren ist ihr aktuelles Set noch berührender, evoziert noch mehr traumhafte Andacht im Publikum, lotet noch sensibler ein Geflecht aus lyrischer Tiefe und aufbrausender Wucht, aus zarter Poesie und abstrakter Geräuschwelt aus. Einmal mehr ein würdiges Finale an diesem unvergleichlichen Aufführungsort, der nun Geschichte ist.