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Corona macht erfinderisch. Jazzlocations an der frischen Luft zwischen der malerischen Burg Linn bei Krefeld und einem Gewerbegebiet in Hilden. Foto: Stefan Pieper
Corona macht erfinderisch. Jazzlocations an der frischen Luft zwischen der malerischen Burg Linn bei Krefeld und einem Gewerbegebiet in Hilden. Foto: Stefan Pieper
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Jazz gibt es nicht nur in Köln

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Duisburg, Hilden, Krefeld, Essen – NRW als Festivalland diverser Milieus, Konzepte und Historien
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Wenn es um Jazz geht, dann ist NRW ein Festivalland. Vor allem jenseits der Jazzmetropole Köln sind Festivals ein starker Imageträger und verschaffen oft kleinen oder strukturschwachen Städten eine überregionale Ausstrahlung. Das Moers Festival ist hier das prominenteste Beispiel. Immerhin fanden zu Pfingsten im Moerser Freizeitpark die allerersten Konzerte vor Publikum wieder statt. Der „echte” Neustart einer Live-Kultur auf breiter Ebene ist erst jetzt im ausgehenden Sommer erfolgt – aber damit lässt sich die Friedhofsruhe der Lockdown-Zeit umso nachhaltiger bekämpfen. Jazzjestivals in NRW sind durch sehr diverse Historien, Konzepte und Milieus geprägt. Kreativ und hartnäckig und mit viel privater und öffentlicher Unterstützung haben die Veranstalter ihre Events für die aktuelle Situation passend gemacht und damit auch so manche gute Idee für die Zukunft aus der Taufe gehoben.

Zum Beispiel in Duisburg, was nach außen nicht unbedingt als Kulturmetropole wahrgenommen wird: Das Platzhirsch-Festival belegt, dass hier viele kulturaffine Mennschen an einem Strang ziehen. In diesem Jahr profitierte das Festival vom Duisburger Kultursommer, der in einem großen Zelt im Kantpark den verschiedenen Kultursparten ein Forum liefert und hier natürlich auch der Platzhirsch (deswegen heißt er ja wohl so) zu Gast war. Hier begegnen sich alternative rockige Klangwelten mit improvisierten Sternstunden, etwa eine Trio-Besetzung mit der belgischen Pianistin Marlies Debacker, dem Schlagzeuger Kevin Shea und dem Bassisten Salim Javaid. Hypnotische Kraft entfaltete zum Finale eine Neuaufführung von Julius Eastmans minimalistischem Werk für vier Klaviere „Evil Nigger“ unter Federführung des Duisburger Pianisten Kai Schumacher.
Auch Hilden wird wohl in kaum einem Deutschland-Reiseführer als kulturelles Mekka gepriesen. Der Schlagzeuger Peter Baumgärtner nahm sich aber der Sache an, als ihn die damalige Kulturdezernentin fragte, ob er ein Jazzkonzert veranstalten könnte. Dies war die Geburtsstunde der Hildener Jazztage, die in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiern. Normalerweise breitet sich das Hildener Festival über viele kleine Venues aus. Das geht zwar im Corona-Jahr noch nicht – dafür wurde ein Gewerbegebiet zum Mekka das Jazz. Zum Beispiel mit einem herausragenden Gastspiel der litauischen Band Shinkarenko Jazz 4 und einer Aufführung der Five Birds and Strings des Gitarristen Axel Fischbacher zusammen mit der Wuppertaler Kammerphilharmonie.
Krefeld ist eine weitere mittelgroße Stadt, in der seit Jahrzehnten ein umtriebiger Verein sein Publikum für ästhetische Abenteuer vorbildlich sensibilisiert hat. Höhepunkt im Jahr ist der Jazz-Sommerabend vor der malerischen Burg Linn – und auch dieser funktionierte wieder prächtig nach einem Jahr Pause: Mit musikalischen Entdeckungen wie die österreichische Band chuffDRONE, gefolgt von einer Freejazz-Sternstunde mit dem Quartett Mofaya!, bei dem es die US-Trompeterin Jaimie Branch und der Saxofonist John Dikeman ekstatisch in die Nacht hinaus schallen ließen.
Ebenso ist das Ruhrgebiet in Sachen Jazz alles andere als strukturschwach. Dafür sorgt nicht zuletzt die Jazzoffensive Essen, deren alljährliches Festival frische Kreativität zu bündeln weiß. Drei Abende lang gab es auch hier mit Herzblut erdachte und mit ebenso viel Leidenschaft gespielte Musik, die sich nicht darum schert, in irgendeine kommerziell oder medial fassbare Schublade zu passen. FreeJazz mit Heavy Metal ließ die Formation Maelstroem überzeugend miteinander reagieren. Eine meditative Sternstunde aus Norwegen ging aufs Konto eines neuen Trios von Thomas Strønen. Eine extrem coole beatlastige Musik erzeugte ein Trio bestehend aus dem Schlagzeuger Simon Camatta, dem Banjospieler St.Kirchoff und dem DJ Illvibe. Und immer noch klingt das große Finale beim JOE-Festival in den Ohren nach – eine Aufführung von Luise Volkmanns internationaler Großformation Été Large, deren Programm eine echte, neue Jazzoper im Geiste der 1968er-Bewegung darstellt.
Dies sind nur einige Ausschnitte aus einem reichen Spektrum an Konzertreihen und Festivals, die zurzeit allerorten fast schon für ein Überangebot sorgen, die aber in jedem Moment und überall die vorhandenen Potenziale gerade in der freien Szene unter Beweis stellen. Die öffentliche Hand macht sich gerade in dieser Zeit durch beherzte Unterstützung verdient, ebenso erfahren viele Veranstaltungsreihen einen immensen freiwilligen Support durch ihr Publikum oder neu gegründete Fördervereine.   
 

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