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Jenseits des Körpers

Untertitel
Ken Ishiis „Sleeping Madness“: Techno-Avantgarde aus Japan
Publikationsdatum
Body

Ken Ishii tut das, was alle (großen) Künstler immer taten: er definiert sich durch den größtmöglichen Gegensatz. Nur wer schwach ist und seinen eigenen Konzepten nicht traut, braucht Abgrenzung und Ausschluss. Die große Identität und, ästhetisch gesehen, die große „Form“ ist die, in der, potenziell zumindest, alles enthalten und transformiert ist. Ken Ishiis Musik ist „abstrakter“ Techno. Seine Gewalt verdankt sich dem, was er löscht, und, auf diese Weise zumindest, „stumm“ und „schwer“, noch enthält.

Wie Rock hat auch Techno als reine Körpermusik begonnen. Während aber im Rock die Sublimierung von Sex und Revolte zwangsläufig zu Gigantomanie und Kitsch zu führen scheint („Classic-Rock“, „Jazz-Rock“), schafft es Techno, sich für andere Genres durchlässig zu machen, ohne peinlich zu werden. Ken Ishii, 1970 in Sapporo geboren, liebt Überraschungen: „Zu Hause“, sagt er, „höre ich sogar Garbage und Janet Jackson. Und ich mag das Zeug, wirklich.“ Ken Ishii tut das, was alle (großen) Künstler immer taten: er definiert sich durch den größtmöglichen Gegensatz. Nur wer schwach ist und seinen eigenen Konzepten nicht traut, braucht Abgrenzung und Ausschluss. Die große Identität und, ästhetisch gesehen, die große „Form“ ist die, in der, potenziell zumindest, alles enthalten und transformiert ist. Ken Ishiis Musik ist „abstrakter“ Techno. Seine Gewalt verdankt sich dem, was er löscht, und, auf diese Weise zumindest, „stumm“ und „schwer“, noch enthält. Die Abstraktion ist bei ihm nicht nur Programm, sondern auch Pose. Nicht zufällig beruht das preisgekrönte Video zu seiner ersten Single („Extra“, mittlerweile drei Jahre alt) auf der Manga-Ästhetik: den obsessiven Japan-Comics, die das Allerinnerste (das oft gewalttätige Begehren) krude und reduziert nach außen kehren. Zumindest für das allererste, oberflächlichste Zuhören fallen auch bei Ken Ishii die Details weg, zählen nur Struktur und Ereignis, wird der Reichtum der Welt zeichenhaft zugespitzt: kein Kosmos des Fleisches und der Erfahrungen, sondern ein rein virtuelles Universum der unendlichen Möglichkeiten. Das Monotone und Minimale des Ken Ishii-Konzepts ist freilich nur Schein. Tatsächlich ist diese Musik sorgfältig komponiert – und bis in die kleinsten Effekte geplant. Wer nur (wenn auch weiterentwickelte) Techno- und Industrial-„soundscapes“ hört, verfällt der raschen Suggestion der Oberflächen. In Wahrheit ist „Sleeping Madness“ auf subtilste Weise montiert, verschiedenste Genres sind auf vertrackt-additive Weise „ineinander geschnitten“: Ken Ishiis Musik ähnelt Godards Filmen – keine Perspektive wird für selbstverständlich, „natürlich“ gehalten, fast nichts wird behauptet, fast alles zitiert. Da kann dann, mitten im synthetischsten Sound, die „bassline“ sehr jazzy sein – oder zumindest so tun.

Wie viele E-Musik-Avantgardisten der letzten Jahrzehnte interessiert sich auch Ken Ishii für die Zwischen-Zonen, wo man mit reinen Geräuschen plötzlich tonale Wirkungen erzeugen kann oder wo der vermeintlich klarste Ton in krudesten Krach wegdiffundiert. „Abstraktion“ definiert Ken Ishii zwar durchaus als Resultat, aber eben auch als Anfang: aus irritierender Unbestimmtheit entsteht Neues.

Als wichtigste Einflüsse nennt Ken Ishii übrigens das Yellow Magic Orchestra, diese japanischen Vorreiter künstlichsten Pops aus der New-Wave-Ära der frühen 80er-Jahre; und deutsche „Seltsamtöner“ der Generation davor: Neu!, Conny Plank und DAF. Ihm am nächsten und der unmittelbare Auslöser der eigenen Produktion ist der Detroit Techno der späten 80er-Jahre, der auch schon ein rein physisches Universum („dancefloor“) trancig transzendierte.

Aktuelles Album: Ken Ishii: Sleeping Madness, Zomba.

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