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Wenn sich Kevin Coyne und David Moss auf der Bühne gegenüber stehen, dann stehen sich auch zwei fremde Musikauffassungen gegenüber. Das dies nicht kontraproduktiv sein muss, sondern höchst belebende Auswirkungen haben kann, zeigte die Premiere des Projekts „Opera for Syd", das der Dessauer Komponist und Altsaxophonist Achim Goettert zusammen mit dem Rockpoeten Kevin Coyne für die 23. Leipziger Jazztage realisierte. Thema war die Musik und das Leben des ehemaligen Pink Floyd-Gitarristen Syd Barrett, einem stilbildenden Exzentriker, der heute zurückgezogen von der Musikszene in Mittelengland lebt.
Es war eine überzeugende Vorstellung auf der großen Opernbühne: laut, anarchisch, temporeich und übervoll mit Rock, Blues, Jazz und improvisiertem Spiel. Das Konzert lebte von den kontrastierenden Persönlichkeiten: Kevin Coyne als alternder Rocksänger, mit einer Stimme, die „immer noch Brandblasen erzeugen kann" (Zitat aus einem Programmheft). Seine einfachen Reime, durch zahlreiche Wiederholungen ins Bewusstsein der Zuhörer eingegraben („I got a bike, you can ride it, if you like"), standen in frappierendem Kontrast zur Silben- und Wörterflut von David Moss. Der New Yorker PerformanceKünstler, sowohl in der Avantgarde wie in der Jazzmusik zu Hause, tat sich auch bei seinem Ausflug in die Welt des Rock nicht allzu schwer. Zugeständnisse an den populären Musikstil machte er allerdings keine. Seine Vokalakrobatik unterstrich er durch wildes, rasendes Schlagzeugspiel, das sich niemals im klaren und wuchtigen Rockbeat von Coynes exzellentem Drummer Tony Nissl verlor. Im Kontrast der Genres lag ein guter Teil der Spannung verborgen, die Rock-, Jazz- und E-Musiker gemeinsam erzeugten.
Eine gelungene Kombination verschiedenster Stilrichtungen fand auch im übergreifenden Zusammenhang statt. Der künstlerische Leiter der Leipziger Jazztage, Bert Noglik, präsentierte in den fünf Tagen Ende September bis Anfang Oktober sehr Unterschiedliches – dennoch wurden feine Verbindungslinien zwischen den einzelnen Aufführungen sichtbar – und vor allem hörbar.
Keine leichte Kunst, wenn man sieht, wie sich Festivals heute immer stärker an Sonderinteressen ausrichten (Dixieland, Mainstream, amerikanische Szene, Europa, experimenteller Jazz) oder – als das andere Extrem – gleich zu einem rein quantitativ ausgerichteten Gemischtwarenladen werden (Montreux, North Sea Festival).
Die Leipziger Jazztage zeigten auf, dass Anhänger von Benny Golsons kultivierten Hardbop-Linien auch einer „Rockröhre" etwas abgewinnen können (zumindest eine gewisse Zeit lang); und dass die Szene aus der Region, die mit dem „Leipjazzig Orkester" unter Stephan König unkonventionellen Rockjazz bot, sich nicht vor der internationalen Konkurrenz zu verstecken braucht. In Leipzig sorgten Stars wie Cassandra Wilson und Abdullah Ibrahim für volle Säle. Gleichzeitig konnten die „extremeren" Improvisatoren wie Alexander von Schlippenbach, Evan Parker oder Youngster wie Abraham Burton, Eric McPherson oder Sandra Weckert etliche Neugierige vom großen Strom des Publikums abzweigen.
Darüber hinaus gewann man den Eindruck, dass dem Leipziger Publikum eine Offenheit, eine Unvoreingenommenheit zu eigen war, die man in westdeutschen Städten so nicht kennt. In München, Hamburg oder Köln sind die Szenen hermetischer, überschneiden sich nicht mehr: der Trend zur Abschottung gegen die jeweils „andere" Musik mag ein Zeichen dafür sein, wie Identität immer mehr zur reinen Äußerlichkeit verkommt. Alles wird zur Frage des modischem Outfits: Sage mir, welche Musik du hörst, und ich sage dir, wer du bist.
In Leipzig, im zehnten Jahr nach der friedlichen Revolution – oder nach der Wende wie die Leipziger nüchtern sagen würden – herrschte Anfang Oktober eine besondere Atmosphäre. Jede Straßenecke, jeder Platz schien Erinnerungen hervorzurufen an Montagsdemonstrationen, an Diskussionen in Kirchen und bei Konzerten, an das bedrohliche Polizeiaufgebot überall in der Stadt. Dass Abdullah Ibrahim seine stark autobiografisch gefärbte Suite „Cape Town Traveller" in diesem historischen Umfeld uraufführte, gab dem Werk noch einmal ein stärkeres Gewicht innerhalb des übrigen Festivalgeschehens. Abdullah Ibrahim wuchs in Kapstadt auf und ging 1962 nach Europa, wo er bald darauf – im Zürcher Café Africana – von Duke Ellington entdeckt wurde. Trotz internationaler Anerkennung als eine der damals seltenen afrikanischen Stimmen im Jazz zog es ihn 1973 für drei Jahre zurück nach Südafrika.
In dieser Zeit spielte Ibrahim mit seinen südafrikanischen Formationen das Stück „Mannenberg" ein, das nicht nur ein Hit wurde, sondern ein musikalisches Symbol des Widerstands gegen die Apartheid. 1976 organisierte Ibrahim ein Jazz-Festival, das sich um die Apartheidsgesetze nicht scherte, wenige Tage später verließ er das Land. Er kehrte erst 1990, im Zuge der politischen Umwälzungen, mit seiner Familie nach Südafrika zurück. Als Nelson Mandela 1994 das Präsidentschaftsamt übernahm, saß er bei der Zeremonie der Amtseinführung am Klavier. Bert Nogliks Idee war es, die abendfüllende Suite des Kapstadtreisenden auf der Bühne der Leipziger Oper in Szene zu setzen. Was Noglik zusammen mit Ibrahim und dessen Musikern in nur zweieinhalb Tagen umsetzte, war beachtlich, doch es lag auf der Hand, dass in dieser kurzen Zeitspanne viele Dinge noch nicht bis ins letzte Detail ausgearbeitet werden konnten.
Dennoch: Das Projekt stellt einen bemerkenswerten Ansatz dar, Jazzmusik einem breiteren Publikum näher zu bringen.
Nachklänge aus der Diktatur
Ibrahims künstlerische Aussage ist zuallererst eine musikalische. Sie ist und war aber zeitlebens auch eine gesellschaftliche – bedingt durch die Arbeits- und Lebensbedingungen unter denen sie entstand. Weil sich politische und künstlerische Aussage hier am schlüssigsten ergänzten, wirkte eine Szene der Inszenierung besonders geglückt: Ibrahim und seine Musiker verlassen ihren angestammten Platz auf dem Podium, scharen sich um ein etwas verloren im Raum stehendes, verstimmtes Klavier und stellen dort eine historische Szene im Aufnahmestudio nach, bei der 1974 der Hit „Mannenberg" entstand – die inoffizielle Hymne des schwarzen Südafrika.
Ganz hervorragend das junge Ensemble Ibrahims, mit dem Saxophonisten Horace Alexander Young, Benny Russell, James Stewart, dem Posaunisten Muhammad Al-Khabyr sowie dem Bassisten Belden Bullock und dem Drummer Hoerge Gray. Das Instrumentalensemble aus ausnahmslos jungen Musikern korrespondierte zudem glänzend mit den Sängern Lauren Newton, Elisabeth Tuchmann, Oskar Mörth und nicht zuletzt Bertl Mütter, der seine virtuose Beherrschung der Posaune ganz in den Dienst des Gesangsensembles stellte.