Nur wer sich erinnert, kann erlöst werden: diese alte jüdische Weisheit bestimmt auch die ästhetischen Strategien der Moderne, von Joyces Weltalltags-Phantasmagorie im „Ulysses“ über Prousts „Recherche“ bis zu Walter Benjamins „Pariser Passagen“. Das ist das eine. Das andere war, seit Nietzsche und Baudelaire, die ewige Wiederkehr; mal als manisch-euphorische Feier des Daseins, mal als depressives Debakel einer haltlosen Existenz, die einer fatalen Fährte folgt. Der späte Freud enthüllte das Geheimnis dieses Gedächtniszwangs: jede Erfahrung, die sich nicht im Bewusstwerden löst, hinterlässt eine bleibende Spur in der Psyche. Was verdrängt wurde, mutiert zur Obsession. Was verleugnet wird, beginnt zu gespenstern. Benjamin löste, während er durch die Passagen flanierte, das Rätsel der Moderne. Das Allerneueste ist das Uralte, das sich in immer anderen Masken präsentiert: als wäre es noch nie da gewesen. Das Modell dieses mythischen „dernier cri“ war für ihn die Mode. In ihr zählt nur, was aktuell ist. Aber der Clou der Saison stammt aus dem Fundus. Up to date ist, was vergessen wurde. So verhält es sich auch in der Pop-Musik. Mehr noch als jede andere Kunst ist sie im Bann des Neuen. Aber das Unerhörte ist nur das, was schon einmal da war – und aus dem Bewusstsein verschwand
Nur wer sich erinnert, kann erlöst werden: diese alte jüdische Weisheit bestimmt auch die ästhetischen Strategien der Moderne, von Joyces Weltalltags-Phantasmagorie im „Ulysses“ über Prousts „Recherche“ bis zu Walter Benjamins „Pariser Passagen“. Das ist das eine. Das andere war, seit Nietzsche und Baudelaire, die ewige Wiederkehr; mal als manisch-euphorische Feier des Daseins, mal als depressives Debakel einer haltlosen Existenz, die einer fatalen Fährte folgt. Der späte Freud enthüllte das Geheimnis dieses Gedächtniszwangs: jede Erfahrung, die sich nicht im Bewusstwerden löst, hinterlässt eine bleibende Spur in der Psyche. Was verdrängt wurde, mutiert zur Obsession. Was verleugnet wird, beginnt zu gespenstern. Benjamin löste, während er durch die Passagen flanierte, das Rätsel der Moderne. Das Allerneueste ist das Uralte, das sich in immer anderen Masken präsentiert: als wäre es noch nie da gewesen. Das Modell dieses mythischen „dernier cri“ war für ihn die Mode. In ihr zählt nur, was aktuell ist. Aber der Clou der Saison stammt aus dem Fundus. Up to date ist, was vergessen wurde. So verhält es sich auch in der Pop-Musik. Mehr noch als jede andere Kunst ist sie im Bann des Neuen. Aber das Unerhörte ist nur das, was schon einmal da war – und aus dem Bewusstsein verschwandHipHop und Techno machen das durch ihr konstruktives Verfahren („Sampling“) bewusst. Der Rock’n’Roll muss es verleugnen oder zumindest tarnen. Die Wiederaneignung des Vergangenen nimmt die Form der Verehrung an. Das „rockistische“ Genie ist im Ursprung Sammler, später dann Wiedergänger. Rock will authentisch sein und muss deshalb ein Paradox aushalten: dass nämlich das, was man selbst ist und tut, dasselbe ist, was schon die großen Vorbilder waren und taten, und doch auch etwas ganz Neues und Eigenes. Wer von „Revival“ spricht (oder gar von „Epigonentum“), verhält sich kulturkritisch; er macht sich die Sache zu einfach.Der Neo-Rock der Strokes und ihrer Nachfolger ist die laute und wüste Antwort auf die Parole des letzten Jahres: „The Qiet Is The New Loud“. An die Stelle der zarten und zerbrechlichen Barden, die subtil und suggestiv den Weltinnenraum der eigenen Subjektivität ausloten, treten die „wilden Männer“, die sich im „leader of the pack“ des Jahrgangs 1954, Marlon Brando, wiedererkennen. Black Rebel Motorcycle Club (bei Virgin) verdanken Band- und Album-Namen einer Hollywood-Rockergang, die zwischen Korea-Krieg und erstem „Elvis, the pelvis“-Hüftschwung eine Kleinstadt tyrannisierte und doch offenbar so heftig nach „teen spirit“ schmeckte, dass sich die Erregung zwei, drei Generationen später revitalisieren ließ. Für den NME sind BRMC die „bösen“ Buben, die nicht, wie The Strokes, passioniert Platten sammeln, sondern sich hingebungsvoll dem „hard living“ widmen, echte Enkel von Iggy Pop in der „raw power“-Phase der Stooges und so unerbittlich wie MC 5 in der soundsovielten Detroiter Depression.
Mull Historical Society ist, genau betrachtet, ein Ein-Mann-Band-Projekt aus Schottland. Natürlich fällt einem da sofort die große Postcard-Label-Tradition ein. Aber Colin McIntyre betont trotz des geschichtsbewussten Namens, dass er sich Sammlertum nicht leisten könne: finanziell nicht und zeitlich nicht. Die Vorbilder kennt er angeblich nur von Compilations und sein eigenes Produzieren ist so rüde und rasch, dass er schon bei Erscheinen seines Debüts („Loss“, bei Wea) auf eine rasant wachsende Backlist zurückblicken kann. Colin McIntyre verkörpert also das rockistische Paradox: einerseits Augenblicks-Authentizität und raschester Verzehr, andererseits eine Subjektivität, deren Spuren sich in Songs niederschlagen und in einem Archiv aufbewahrt werden.
Noch schizophrener ist vielleicht Ryan Adams, der Star der Stunde, der in seinen Konzerten als sein eigenes Double auftritt: zunächst präsentiert er, solistisch verloren, die Liebes-Loser-Lieder seines Debüts „Heartbreaker“ rein akustisch, nur Gesang und Gitarre, und mimt dabei die eigene Vorgruppe. Dann rückt er machistisch ins Zentrum einer wilden Band und zelebriert die Hits des Erfolgsalbums „Gold“ (Lost Highway/Mercury Universal) so zerrüttet, dass das Herz des Rock’n’Roll sichtbar wird und zu bluten beginnt. Als Teenager hat Ryan Adams gelesen (Hubert Selby, Henry Miller, Jack Kerouac), weil es in dem North Carolina-Nest, wo er aufwuchs, sonst nichts gab. Jetzt inszeniert er sich gern als der neueste Dylan und als zerschlissenes Genie, das die Gegensätze vereint: Workaholic und Kontroll-Freak, aber immer auf Abwegen, nur im Rausch zu Hause. Für das Jung-Sein hat er die definitive Formel gefunden (und es ist gleichgültig, ob das andere vor ihm auch schon taten): „traurig sein, high sein“, extreme Emotionen also; solange man ihnen ausgeliefert ist, lebt man noch.
David Lowery ist schon länger im Geschäft: zuerst „kultig“ mit Camper van Beethoven, dann das Weltwunder einer Indie-Band, die zum Major-Millionenseller wurde. Jetzt gibt es, nachdem Lowery zwischendurch auch fast so etwas wie ein Mitglied von Thomas Mei-neckes FSK und, „genealogisch“, mit beinahe der gesamten US-Szene verbandelt war, das fünfte Cracker-Album mit dem programmatischen Titel „For-ever“ (Cooking Vinyl/Indigo): innig ironischer Schweinerock, eine Art post-hippieskes „Jammen“, das neuerdings nicht einmal den Computer als Komponier-Kollegen verschmäht, wenn es nur Resultate bringt.
Und was ist noch unentbehrlicher? Mazzy Star-Sängerin Hope Sandoval mit einem eigenen Album („Bavarian Fruit Bread“, Rough Trade/Santuary), auf dem die betörendste Stimme des Pop prüft, wie wenig es braucht, um absolut umwerfend zu sein; oft nah am Verstummen oder eher Verschwinden, aber immer mit einer atemberaubenden Intensität.