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Lange galt im Lande Pop nur eine Formel: Hip war, wer cool war. Emotionen schienen bloß legitim, wenn sie sich als Inszenierungen erwiesen. Die Seele konnte nur maskiert passieren. Passionen ließ man höchstens den Schwarzen durchgehen. Ansonsten konnte man mit heftigeren Gefühlen zwar Reichtum, aber keinen Respekt erwerben. Selbst ein Bob Dylan setzte seine Reputation aufs Spiel, als er zu Zeiten seines heftigeren Erwecktseins („Saved“, „Slow Train Coming“) seine Pathosformel verkündete: dass jeder dienen müsse und man nur die Wahl zwischen dem „demon“ und dem „lord“ habe. Mittlerweile scheinen Rolle und Kostüm, Ironie und Satire „out“: Die neuen Meisterwerke des Pop verdanken sich einer liaison dangereuse zwischen Reflexion, „Gebrochenheit“ und Pathos. Anders als in der Zwischenkriegszeit, als das „maximale innere Ergriffensein“ (Aby Warburg) vom Futurismus bis zum Faschismus eine vitalistische Renaissance erfuhr, erscheint das Pathos heutzutage nicht mehr als Projekt, sondern als Erfahrung.

Lange galt im Lande Pop nur eine Formel: Hip war, wer cool war. Emotionen schienen bloß legitim, wenn sie sich als Inszenierungen erwiesen. Die Seele konnte nur maskiert passieren. Passionen ließ man höchstens den Schwarzen durchgehen. Ansonsten konnte man mit heftigeren Gefühlen zwar Reichtum, aber keinen Respekt erwerben. Selbst ein Bob Dylan setzte seine Reputation aufs Spiel, als er zu Zeiten seines heftigeren Erwecktseins („Saved“, „Slow Train Coming“) seine Pathosformel verkündete: dass jeder dienen müsse und man nur die Wahl zwischen dem „demon“ und dem „lord“ habe. Mittlerweile scheinen Rolle und Kostüm, Ironie und Satire „out“: Die neuen Meisterwerke des Pop verdanken sich einer liaison dangereuse zwischen Reflexion, „Gebrochenheit“ und Pathos. Anders als in der Zwischenkriegszeit, als das „maximale innere Ergriffensein“ (Aby Warburg) vom Futurismus bis zum Faschismus eine vitalistische Renaissance erfuhr, erscheint das Pathos heutzutage nicht mehr als Projekt, sondern als Erfahrung. Exemplarisch verkörpert wird dieses neue Pathos des gelebten Lebens vom Johnny Cash des letzten Jahrzehnts. Die vier meisterhaften Alben seiner „American Recordings“ erzählen von Sünde und Solidarität. Der alte Country-Outlaw Cash steht jetzt am unheimlichen Rand seines Lebens, er ist ein fast schon Vergangener, der Bilanz zieht. Seine Geschichten sind authentisch, weil sie sich dem Scheitern verdanken. Im Titelsong seines Albums „The Man Comes Around“ (Mercury/Universal), an dem er, wie er selbst sagt, länger, suchender und verwerfender gearbeitet hat als an jedem anderen seiner 50-jährigen Karriere, berichtet er von Apokalypse und Offenbarung, als handele es sich dabei um Anekdoten aus seinem eigenen Leben. Traum und Realität verschmelzen in seinem verdschungelten Hirn mit seinen unzähligen Lebensdetails, die Transzendenz bricht ins Dasein ein. Cash wird zum „Wirbelwind in einem Dornbusch“, aber in dieser Selbstbeschreibung steckt keine Hybris, weil er in seinen Notizen zum großen Phantasma die kleine Komödie mitliefert: Bei einem England-Aufenthalt kaufte er sich ein Buch, „Dreaming of the Queen“ und träumte prompt selbst seinen Königinnen-Traum, bei dem ihn die Monarchin zwar nicht zum Ritter schlug (wie den einen oder anderen Kollegen), aber sehr wohl erkannte, dass Johnny Cash nicht mehr ganz von dieser Welt ist. „The Man Comes Around“ versammelt wie die Vorgänger eine Reihe eigener, neuer Songs mit vielen stupenden Cover-Versionen, die rühren, weil Cashs raue, brüchige Stimme die Melodie, den Sound des Songs immer erst sucht: So wird selbst aus einer Kitsch-Hymne wie Paul Simons „Bridge over troubled water“ ein existentielles Bekenntnis, das man widerspruchslos hinnimmt. Cash macht einen Depeche Mode-Hit wie „Personal Jesus“ zu einem Song, den man sich fast nur noch aus Cashs Mund vorstellen kann, weil diese spezielle Pathosformel, dass jeder einen braucht, der auf einen aufpasst und noch den Verlorensten rettet, einen Schutzengel und Erlöser, besser zu diesem von Verlust und Gnade kündenden Spätwerk passt als zu bigger than life-Stadion-Disco-Events. Alles gelingt Cash vorzüglich, selbst Revisionen von Sting- und Beatles-Songs („In My Life“) und die Rehabilitation des Eagles-Klassikers „Desperado“. Nur an einem scheitert er, wie so viele vor ihm: an dem Versuch nämlich, Hank Williams‘ „I’m So Lonesome I Could Cry“ ins Cash-County hinüberzuziehen. Was beim Ewan McColl-Evergreen „First Time Ever I Saw Your Face“ noch zum Schaudern schön gelang, nämlich die Intensivierung eines Songs durch seine vollkommene Reduktion und Verlangsamung, das führt bei Hank Williams zu einem merkwürdigen Leiern, der bloßen routinierten Präsentation eines Pathos, das so plötzlich zum bloßen Kulturgut wird, an dem man sich erbauen kann.

Neo-Pathetiker ganz anderer Art sind Martin Rev und Alain Vega: Ihr unverkennbarer „Suicide“-Sound, den sie seit Mitte der 70er-Jahre entwickelten, war von einer düsteren Wucht, in der sich „maximales inneres Ergriffensein“ mit der, je nach Blickwinkel, Kühle oder puren Verzweiflung einer Spätzeit verband. Suicide waren damals schon „sexy“, aber es war eine dunkle, beinahe dämonische Erotik, die das Duo verkörperte. Nach zwei hervorragenden Alben war scheinbar schon Schluss mit einer einzigartigen Pathosformel des Pop, Rev und Vega verfolgten ihre Solo-Projekte, denen immer etwas fehlte, die Alben Nr. 3 und 4, die 1988 und 1992 erschienen, machten sie noch legendärer, aber auf eine „undergroundige“ Art, das heißt ohne große Resonanz bei Massenmedien und den Konsumenten des jähen, raschen Verzehrs. Das eben erschienene fünfte Album, „American Supreme“ (First Blast/Mute/Virgin Labels), ist eine Provokation und ein Ereignis: Revs insistente Elektronik, von der PR-Logos wie Funk-Noise sicher keine rechte Vorstellung vermitteln, verdichtet Vegas verstörte Rock’nRoll-Predigten aus dem Medien-Traum-Niemandsland zwischen „Dachau, Disney, Disco“ (so ein Song-Titel) zur infernalischen Gegenwarts-Messe, in der die gern verdrängten Dämonen auf suggestive Weise beschworen werden.

Viel heller und viel irdischer ist da die Pathosformel der etwas anderen Brit-Popper von Supergrass. Sie beschwören auf ihrem neuen Album „Life On Other Planets“ (EMI) eine Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will. Die des Pop zwischen Bowie, Bolan und Lennon, der hier in frisch verleimten Versatzstücken fröhliche Urstände feiert. Bei Supergrass gibt es keine Geschichte, sondern nur eine ewige Gegenwart. Das Archiv wird zur Jetztzeit-Soundmachine. Auch das ist Pathos; vielleicht sogar eins, das Pop besser definiert als jedes andere.

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