Hauptrubrik
Banner Full-Size

Nachschub

Untertitel
Jenseits der Grenzen
Publikationsdatum
Body

„Fusion“ und „Crossover“ gehören zu den umstrittensten Begriffen der Pop-Geschichte. Sie bezeichnen ein Verfahren, bei dem man aus dem sicheren Nachhinein meist feststellen kann, dass das Risiko größer war als die Chance: eine Ästhetik nah am Abgrund zu Kitsch und Schund. Die Propagandisten der Grenzüberschreitung erwiesen sich in der Vergangenheit oft als reine Geschäftsleute der Geschmacklosigkeit, die niederste Bedürfnisse bedienten – und abkassierten.

„Fusion“ und „Crossover“ gehören zu den umstrittensten Begriffen der Pop-Geschichte. Sie bezeichnen ein Verfahren, bei dem man aus dem sicheren Nachhinein meist feststellen kann, dass das Risiko größer war als die Chance: eine Ästhetik nah am Abgrund zu Kitsch und Schund. Die Propagandisten der Grenzüberschreitung erwiesen sich in der Vergangenheit oft als reine Geschäftsleute der Geschmacklosigkeit, die niederste Bedürfnisse bedienten – und abkassierten. Man muss sich aber auch vor dem anderen Extrem hüten: dem Hochmut der Puristen, die ihre „Sache“ so rein halten wollen, dass sie schließlich steril wird. Die Grenze zwischen den Genres kann ein ungesicherter, aufregender Ort sein. Warum sollte man nicht die eigene Sprache der Probe einer anderen aussetzen? Dort, wo die Kulturen und Haltungen sich durchdringen, werden Sicherheiten wieder fragwürdig und Traditionsbestände revitalisiert. Ein neueres Beispiel:

Bei Yo La Tengo, der Band aus Hoboken, New Jersey, riskiert man vergleichsweise wenig. Sie sind schon seit Ende der 80er-Jahre musician’s musicians und Kritiker-Lieblinge. Sie erneuerten den Folk, weil sie ihm das Lagerfeuer-hafte, die Joan-Baez-hafte Weltverbesserungs-Euphorie einer saturierten Middle-class austrieben. Bei Yo La Tengo wurde Folk urban und reflexiv, ohne dass er emotional ausdünnte. Aus blauäugiger Bekenntnismusik machten sie eine neue ästhetische Avantgarde, der bewusst war, dass Authentizität nur noch möglich ist, wenn man mit allen Codes und Künstlichkeiten vertraut ist. Wahrhaftigkeit wurde bei Yo La Tengo sophisticated. Was die Bob Dylan-Aficionados in den Sixties noch entsetzte, die plötzliche Vereinbarkeit von Folk und „elektrifizierter“ Musik, das ist bei Yo La Tengo längst selbstverständlich. So konnten sie zu Propheten eines coolen Post-Rock werden, bei dem das gewollt Rohe sich mit äußerster Verfeinerung bestens vertrug. Das neueste Yo La Tengo-Album „And Then Nothing Turned Itself Inside-Out“ (Zomba) macht freilich selbst die ansonsten begriffssüchtigen Popkultur-Theoretiker der Zeitschrift „Spex“ zu sprachlos Begeisterten. An die Stelle einer Kritik setzen sie die Short-Story einer Euphorisierten. In Rollenprosa kann man Stellung beziehen, ohne die Maske abzunehmen. Was ist das „Problem“ dieses wunderschönen Albums – wohlgemerkt nur für den Journalisten, nie für den Hörer? Der ungeheure Reichtum der Formen, der aber nicht montiert oder collagiert wirkt, sondern sich den selbstverständlichsten Melodien und Harmonien fügt; die simple Tatsache, dass hier jenseits der Elektro-Szene der raffinierteste Sound songfähig wurde.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!