Unter dem neuen Namen „Shortcuts“ wurde ein eintägiges Festival nach gleichen Kriterien wie die dreitägige Großausgabe konzipiert: Fokus auf Europa, auf Neuentdeckungen und auf höchste Qualität.
Der Jazz lebt von seinen Persönlichkeiten und Christian Lillinger ist so eine. Er thront auf seinem Schlagzeugsitz und hält die feingesponnenen, rhythmischen Fäden zusammen, steuert Impulse, kontrolliert, schafft Räume, bündelt Energieströme, ein Charakterkopf des Jazz! Oder Saxophonist Otis Sandsjö mit Baseball-Kappe und dickrandiger Brille: Ein fröhlicher Jazz-Nerd, der seine Töne wie Flipperkugeln durch den Raum tanzen lässt. Triller, Spaltklänge, Flageoletts, Growls, alle spieltechnischen Finessen hat er drauf, zeigt sie mit unbändiger Spiellust, aber ohne Protzen. Sandsjö und Lillinger gehören zum Quintett „Koma Saxo“ des schwedischen Bassisten Petter Eldh und diese Band mit drei Saxophonen, Bass und Schlagzeug eröffnete musikalisch schräg, aber ungemein mitreißend den Konzertabend im ausverkauften Theater Münster vor 1.000 Besuchern.
Begonnen hatte den Abend aber ein anderer, auch eine Jazz-Persönlichkeit. Fritz Schmücker ist seit 35 Jahren verantwortlich für die Programmgestaltung des Internationalen Jazzfestivals Münster. 1979 gegründet als Sommerfestival mit den Bignames, vor allem aus den USA, gestaltete es Schmücker zu einer Entdecker-Veranstaltung mit Europa-Fokus um. Das Festival ging durch Höhen und Tiefen, akquirierte starke und treue Unterstützer, den WDR etwa, der seit 1980 die Konzerte aufzeichnet und überträgt. Alle zwei Jahre umfasst das Festival drei Tage mit fast zwanzig Konzerten. In den geraden Jahrgängen gibt es einen Konzertabend, der seit 2020 auch „Internationales Jazzfestival Münster“ heißt, mit dem Zusatz „Shortcuts“.
Das Festival rang um sein Publikum und gewann schlussendlich das Vertrauen von Stammhörern und lockt heute auch Neugierige. Fritz Schmücker tritt konsequent für sein Konzept ein, Überraschendes, Aufregendes und vor allem Kontrastreiches auf die Bühne zu bringen. Ein ausverkauftes Haus und ein gutgelauntes, fast ausgelassenes Publikum sind der Beweis für den Erfolg des Konzepts, auch bei den neugegründeten „Shortcuts“. Auf die quicklebendige Power von „Koma Saxo“ folgten Duo-Konversationen von ganz anderer Intensität. Airelle Besson, Trompeterin und Komponistin, brachte mit dem Akkordeonvirtuosen Lionel Suarez eine kammermusikalische Klangfarbe ins münsteraner Theater.
Eigenkompositionen und Tangos von Carlos Gardel hatten die beiden Franzosen im Programm. Begeistert wurde das Wechselspiel von Trompete und Akkordeon vom Publikum gefeiert, wenn auch der Charakter der Stücke oft ähnlich war. Bessons großer Sinn für das elegische und transparente Gestalten von Melodien durfte bei der Zugabe „Time to say goodbye“ dann noch besonders aufscheinen.
Beschlossen wurde der Konzertabend von einer Band aus Italien, die sich um den US-Cellisten und Sänger Hank Roberts geschart hatte. „Pipe Dream“ hieß dieses Projekt und die Heterogenität des ganzen Abends schien diese Gruppe in sich vereint zu haben. Zwischen Avantgarde-Folk, Free Jazz und Rock pendelte die Musik des Quintetts in ungewöhnlicher Besetzung. Neben Cello und Gesang des Bandleaders waren Posaune, Vibraphon, Klavier beziehungsweise Fender Rhodes sowie Schlagzeug zu hören. Zwei Stücke brauchte die Band, um sich auf der Theaterbühne zu akklimatisieren, dann entfaltete sie einen eigenartigen Zauber mit großer Sogwirkung. Hank Roberts setzte seine Stimme immer wieder als archaisches Instrument ein, nie künstlich, aber immer künstlerisch. Eine Jazzfarbe, wie man sie so nicht oft hört, Ohren öffnende Klänge von hoher Qualität. Und danach fahren alle mit dem Fahrrad nach Hause. Münster halt.
Radiotipp:
Internationales Jazzfestival Münster „Shortcuts“, WDR 3, 22. Februar 2020, 20.04 bis 22 Uhr
https://www.wdr.de/programmvorschau/wdr3/uebersicht/2020-02-22/