Er zählte zu den scharfsinnigsten und zugleich zu den sensibelsten Autoren, die sich der improvisierten und der Neuen Musik zuwandten. Seine Ernsthaftigkeit, seine Genauigkeit im Detail, sein Talent, in großen Zusammenhängen zu denken, neue Verknüpfungen herzustellen und den Klängen auf den Grund zu gehen, machten ihn unverwechselbar: Peter Niklas Wilson.
Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns nicht völlig überraschend und doch wehrte sich alles in mir, sie als Fakt hinzunehmen. Lange Zeit kämpfte Peter Niklas gegen eine schwere Krankheit an, schien dann bereits auf dem guten Weg der Genesung, als sich plötzlich Rückschläge einstellten. Ich sah ihn zuletzt Ende September beim Jazzforum in Darmstadt, wo er referierte. Klug wie immer und mit seinen Thesen über einen Paradigmenwechsel in der improvisierten Musik – weg von der redseligen Praxis, hin zu einer Kunst der Reduktion – auch zur kontroversen Diskussion herausfordernd. Peter Niklas Wilson wirkte von der Krankheit gezeichnet, doch er wollte sie überwinden, offenbarte einen enormen, noch beinahe heiteren Lebensmut. Tragisch die unverrückbare Gewissheit: Peter Niklas Wilson starb am 26. Oktober im Alter von 46 Jahren an den Folgen der Leukämie. Er war bis zuletzt aktiv, beseelt von einem Arbeitsethos als Autor. Seine feinsinnige Art offenbarte er als Musikpublizist ebenso wie als improvisierender Musiker, als Kontrabassist in zahlreichen Spielkonstellationen mit von ihm initiierten Ensembles, auch im Zusammenspiel mit Musikern wie Derek Bailey, Malcolm Goldstein, John Tchicai und Anthony Braxton. Über Anthony Braxton hat Wilson ein exzellentes Buch geschrieben – nicht aus einer Fan-Perspektive, sondern aus der tiefen Einsicht in die musikalischen Prozesse, gleichermaßen Biografie und Werkanalyse, dabei anschaulich und spannend zu lesen. Das gilt ebenso für die anderen Monografien von Peter Niklas Wilson: Bücher über Ornette Coleman, Miles Davis, Sonny Rollins und Albert Ayler. Mit dem Jazz bestens vertraut und an der Hamburger Musikhochschule Geschichte des Jazz lehrend hat er über den Jazz hinausgedacht und seine musikalische Heimat in einer improvisatorischen Praxis gefunden, die eine klangliche Nähe zur Neuen Musik offenbart. Peter Niklas Wilson war aus eigener Erfahrung bewusst, wie improvisierte Musik in einer von Crossover- und Event-Strategien beherrschten Kulturlandschaft an den Rand gedrängt wird. In seiner Essay-Sammlung „Hear and Now“ schrieb er: „Frei improvisierte Musik hat keinen Raum – sie muss sich ihre Räume suchen. Sie ist Fremdkörper in den etablierten Foren des Musikbetriebs, seien es Jazzklubs oder Konzertsäle. Sie ist darauf angewiesen, Exklaven, Reservate zu etablieren. Das macht ihre Schwäche im Musikleben aus und ist doch zugleich ihre Stärke. Denn improvisierte Musik muss nicht nur ihre Räume finden, sondern kann sich auch den Raum aneignen wie keine andere Musik.“
Was das Aneignen von sozialen Räumen anbelangt, so hat Peter Niklas Wilson solidarisches Verhalten an den Tag gelegt, oft lange Anfahrten mit dem Kontrabass in Kauf nehmend, um an Treffen improvisierender Musiker und Musikerinnen teilzunehmen. Er war Mitbegründer der Musikerinitiative „TonArt“ und des Plattenlabels „True Muze“. Bei aller Verbundenheit mit der Praxis beklagte der Autor Peter Niklas Wilson, dass Jazzkritik zunehmend propagiert, anstatt zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Eben das zählte zu seinen Stärken: die kompromisslose, auch zum Widerspruch herausreizende und die Polemik nicht scheuende Auseinandersetzung mit Phänomen der improvisierten und der Neuen Musik. Dabei hat er Einsichten vermittelt, nicht nur kritisch seziert, sondern auch Unerhörtes nahegebracht – in zahllosen Artikeln und Essays für Zeitungen und Fachzeitschriften ebenso wie in einer Vielzahl von Sendungen für zahlreiche deutschsprachige Rundfunksender. Gleichermaßen mit improvisierte Musik und neuer (komponierter) Musik vertraut wusste er, Vorzüge und Schwachstellen beider Bereiche aufzuzeigen, Parallelen und Wechselwirkungen bewusst zu machen. Noch in den letzten Wochen seines Lebens erschien sein neues Buch „Reduktion – Zur Aktualität einer musikalischen Strategie“.
Bei aller Neigung zur Nachdenklichkeit brachte Peter Niklas Wilson auf seine Art auch Glücksgefühle zum Ausdruck. „Improvisation“, schrieb er in „Hear and Now“, „ist die Feier des Jetzt. Sie ist eine Lebenshaltung, eine Sprache mit individuellen Vokabularen. Die Gewissheit der Unwiederbringlichkeit verbindet Musiker und Publikum zu einer Gemeinde, die das Ritual Improvisation zelebriert.“ Anfang November, beim Total Music Meeting in Berlin über das Verhältnis von Bildender Kunst und improvisierter Musik referieren: „Die weiße Leinwand“. Uns bleibt das Schweigen und das Nachdenken, natürlich auch all das, was er hinterlassen hat – und das ist weit mehr als das Nachzulesende und das Nachzuhörende, das ist die lebendige Erinnerung an einen besonderen, einen besonders sensiblen und besonders integren Charakter.