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Visionäre Freiheit ist geografisch ausgelagert

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Originäres und Beliebiges beim 30. Internationalen New Jazz Festival in Moers
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Jacob Kirkegaard, David Shea und Frank Schulte spielen ihre Sampler live: In Konzentration versunken berühren sie die Tasten, beinahe vorsichtig. Es ist das Spröde und Geräuschhafte, das sich hier zu berückenden Texturen formt – im Rahmen des „Electronic Lounge Projects“ ensteht mit digitalisiertem akustischem Material eine Klangfarbenmelodie, die zu den stärks-ten und gleichzeitig fragilsten Momenten des 30. New Jazz Festivals in Moers wird.

Jacob Kirkegaard, David Shea und Frank Schulte spielen ihre Sampler live: In Konzentration versunken berühren sie die Tasten, beinahe vorsichtig. Es ist das Spröde und Geräuschhafte, das sich hier zu berückenden Texturen formt – im Rahmen des „Electronic Lounge Projects“ ensteht mit digitalisiertem akustischem Material eine Klangfarbenmelodie, die zu den stärks-ten und gleichzeitig fragilsten Momenten des 30. New Jazz Festivals in Moers wird.Jazz? Improvisierte Musik war es in Reinkultur – von jener Qualität, bei der junge Schöpfergeister ihre visionäre Freiheit ausleben, um neue eigene Spuren zu legen. Symbolisch für den Zustand der Institution Moers im Jahre 2001 ist die geografische Situation: Die Projekte, in denen Musiker in tagelangen Sessions Neues ausarbeiten sind aus dem eigentlichen Festivalgelände ausgelagert.

Längst ist Moers nicht mehr nur Experimentierfeld, um Neues zu erarbeiten, sondern ein Riesen-Event im Zent- rum unterschiedlicher Interessen. Wenn sich der Publikumsbeifall auf einen konstanten Level bei allen Konzerten nivelliert hat, ist dem WDR für sein Medien-Event genauso Genüge getan wie der Stadt Moers, die sich ökonomisch über einen konstanten Publikumsdurchfluss und überregionale Aufmerksamkeit bei erträglichem finanziellem Einsatz freut. Dazwischen setzt der künstlerische Leiter Burkhard Hennen mit sportlichem Ehrgeiz seine Ellenbogen gegen zu viel konzeptionelle Fremdbestimmtheit ein. Das Festival lebt auch ohne die Präsentation von teuren Acts, die ohnehin schon anderswo reichlich vertreten sind. Das konkurrenzlose Kapital in Moers ist vor allem emotionaler Natur. Wenn die Außenwelt kalt und – wie in diesem Jahr – der Wettergott endgültig tot scheint, wird um die wärmenden Feuer eben noch enger zusammengerückt, und genauso funktioniert es auf der Bühne und im Fes-tivalzelt. Man spürt sich gegenseitig und das macht Moers zum Selbstläufer in punkto Stimmung. Etwa beim serbischen Boban Markovic Orkestar, dessen frenetischer Zigeunerjazz so viel menschliche Wärme transportiert aus einem Land, dessen Image durch jahrelange Exzesse von Hass und Gewalt jahrelang verschlissen wurde. Oder bei der zündenden Melange aus Funk und Hiphop eines Russell Gunn, der die genau richtige Dosierung vorlegt und darin zudem aussagekräftige Solisten platziert. Sich zu sehr auf vorhandene Stimmungskomponenten zu verlassen erzeugt jedoch Beliebigkeit, und die war in diesem Jahr manchmal rekordverdächtig: In ideenarmen und belanglosen Weltmusik-Klischees blieben die „Soul Brothers“ und weitere Aufgüsse der schon längst überstrapazierten „Cuba-Welle“ stecken. Noch mehr enttäuschte David Murray mit dem World Saxophone Quartett und afrikanischen Gastmusikern. Bei dieser Besetzung wäre es Pflicht gewesen, die Sonne aufgehen zu lassen – Fehlanzeigte angesichts einer aalglatten, risikoscheuen „Heile-Welt-Seligkeit“. Murray hat es schon oft wesentlich besser vorgemacht!

Moers im Jahre 2001 wurde daher eher punktuell seinem gewohnten hohen Standard in Sachen hellhöriger musikalischer Abenteuerlust gerecht. Mit gespentischen Noise-Attacken radikalisierten „Supersilent“ aus Norwegen den trompetenzentrierten elekt-rischen „Jazz“ ins Extreme. Harscher Power-Jazz aus Japan kam von der Pianistin Satoko Fujii – eine profunde Tastenzauberin, deren mutiges Spiel Nähen zu Paul Bley oder Cecil Taylor aufwies! Solider Main-stream, der sich vor der Tradition verneigt ohne dabei die Jugend zu verlieren kam von der hoch talentierten Sängerin Jeri Brown, deren durchgestylter Scat-Gesang auf der Basis grooviger Standards nicht nur die Puristenminderheit begeisterte. Für Sternstunden in punkto musikalischer Frische scheint der Italienier Gianluigi Trovesi mittlerweile ein Dauerabo zu haben. Zum Festivalauftakt präsentierte er sich im BigBand-Format zusammen mit einem überragenden Markus Stockhausen auf der Trompete. Ganz in den äußersten Randbezirken eines ohnehin schon (welt)offenen Jazzbegriffes rangierte ein ambitioniertes Schwerpunktthema des Festivals: Die Rede ist von Art Rock, jener Strömung, mit der viele Bands der 70er in opulente dramaturgische Gesamtkonzepte vorstießen. Das Projekt „Soupsongs“ präsentierte berückend schöne Songs des frühen Robert Wyatt. Weniger ätherisch, dafür umso abgründiger ging der einstige Pere-Ubu-Sänger David Thomas in seinen Songs zu Werke. Zum Finale ließen die Residents in ihrer Eigenschaft als amtliche Pioniere in Sachen multimedialer Gesamtkunstwerke kein Sinnesorgan unbedient: Abwechselnd mit Industrial-Attributen und filmmusikalischem Pathos aufgeladen, waren die Songs zu theatralischen Bögen verwoben, über deren Verlauf das Publikum zeitweise selber abstimmen durfte. Optisch konkurrierte eine schattenspielartige Gestik des Sänger/-innen-Duos mit Videoprojektionen voll kafkaesker Obsessivität. Und noch etwas fiel auf: Wie schon lange nicht mehr fand eine deutliche Polarisierung des Publikums in der Meinung über das Konzert der Residents statt.

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