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Autor am Klavier: Benjamin Schaefer. Foto: Peter Tümmers
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Vom Überleben in der Aufmerksamkeitsgesellschaft

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Debatte oder Scheindebatte: Benjamin Schaefer fragt nach der Relevanz des Jazz
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Hallo, mein Name ist Benjamin Schaefer, ich bin Jazz-Pianist und habe jüngst eine Reihe von Blogeinträgen zu den Themen „Beruf: Jazzmusiker“, „Improvisation“ und „Audience Development“ für die Online-Ausgabe der Jazzzeitung verfasst1. Nun wurde ich gebeten, für die nmz einen Artikel über die aktuelle Relevanz des Jazz zu schreiben.

Auch wenn es bereits ein wenig zurückliegt, dass jene Relevanz hierzulande auf breiter medialer Front angezweifelt wurde (unter maßgeblicher Beteiligung der „Süddeutschen Zeitung“) und der Jazz heute wenigstens in manchen Feuilletons wieder die Wertschätzung erfährt, die er verdient, keimen auf Rezipientenseite immer wieder Zweifel auf – in privaten Gesprächen, in Internetforen, im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler …

Stellen wir sie also, die Frage: Ist Jazz relevant?

Jazz wird hierzulande täglich gespielt,­ ob privat in Wohnzimmern und Proberäumen oder öffentlich auf Bühnen, im Radio oder gar im Fernsehen. Zehn-, wenn nicht hunderttausende Deutsche unterschiedlicher Generationen beschäftigen sich mit ihm, sei es als aktive Musiker oder als passive Zuhörer. Mehr junge Menschen denn je studieren Jazz an einer der knapp 20 deutschen Musikhochschulen, die jenen Studiengang anbieten. Künstlerisch geht es dem Jazz blendend, das öffentliche Interesse ist vorhanden. „Ja, aber es stagniert doch.“ – Mag sein, die Bevölkerungszahl in Deutschland stagniert ebenfalls. „Ja, aber das Jazzpublikum wird immer älter.“ – Mag sein, die deutsche Bevölkerung altert ebenfalls.

Über die Relevanz einer so evident vitalen Kunstform debattieren zu wollen ist eine ebenso falsche wie unnötige Scheindiskussion. Was in diesem Zusammenhang wirklich verhandelt wird, ist die Frage, ob etwas, das „nur“ einer Minderheit wichtig ist, dessen Wert „nur“ immaterieller Natur ist und das oft mehr Geld kostet, als es einbringt, für unsere Gesellschaft relevant sein kann. Folglich wird die Frage nach der Relevanz meist dann gestellt, wenn es um finanzielle Forderungen geht (etwa nach dem „Jazzmusikeraufruf“ Anfang 2012 oder im Zuge der Vergabe des Spielstättenprogrammpreises). Und das, mit Verlaub, ist nicht nur ein geistiges Armutszeugnis für diejenigen, die diese Debatte anzetteln, sondern auch eines Landes unwürdig, das zu den reichsten der Welt zählt, seine Gesellschaft für aufgeklärt, weltoffen, demokratisch und pluralistisch hält und sich nach wie vor als „Kulturnation“ rühmt.
Soweit meine erste, emotionale Reaktion. Nun zum analytischen Teil meiner Antwort.

Was ist Relevanz?

Relevanz bezeichnet laut Wikipedia „die Bedeutsamkeit oder Wichtigkeit, die jemand etwas in einem bestimmten Zusammenhang beimisst“2. Wie eingangs beschrieben, ist Jazz für viele Deutsche bedeutsam und wichtig. So interessant wie subjektiv aber ist die Frage, in welchem Kontext und aus welcher Motivation heraus.

In meiner Blogserie zum Thema „Audience Development“ habe ich mögliche Antworten darauf in zwei Kategorien unterteilt – zeitlose innermusikalische und zeitgebundene außermusikalische Gründe3. Zu letzteren zählen Attribute wie Rebellion, Freiheitsdrang, Exzess oder Politisierung, für die Jazz (auch in Deutschland) einmal stand und heute, so die Annahme, nicht mehr steht. Für mich von höherer Bedeutung sind jene Gründe, die der Musik selbst und der ihr zugehörigen Geisteshaltung entspringen: Improvisation als zentrales Merkmal oder gar als Basis zur Entwicklung musikalischer Formen und Momente; ein steter Drang zur Innovation; musikalische Echtzeit-Kommunikation und -Interaktion; die spielerische Integration von Fremdem; flache Hierarchien und ein Höchstmaß an individueller Freiheit bei gleichzeitigem Beitragen zu einem kollektiven Gelingen.

Das Wort Relevanz bezieht sich auf „Einschätzungen und Vergleiche innerhalb eines Sach- oder Fachgebietes“4. Folglich dürfte nur in Frage gestellt werden, ob Jazz als musikalische Stilrichtung relevant ist. Die diversen Alleinstellungsmerkmale des Jazz habe ich im vorigen Absatz beleuchtet, an seiner Relevanz innerhalb der Musik besteht kein Zweifel. Jazz beeinflusst seit jeher maßgeblich die Entwicklung anderer Musikstile und lädt sich im Gegenzug mit Einflüssen aus diesen Stilen neu mit Spannung auf.

Die jüngste Relevanzdebatte über Jazz wird jedoch entkoppelt vom Fachgebiet geführt – es geht, wie eingangs beklagt, um eine abstrakte „Relevanz für die Gesellschaft“. Unter diesen Umständen müsste fairerweise die generelle Relevanz von Musik für die Gesellschaft diskutiert werden – was ebenso müßig wie schwierig wäre.

Worüber eigentlich diskutiert wird – hat (Kunst-)Musik einen Wert?

Viel ist geschrieben worden über die Entwertung von Musik durch digitale Verramschung. Musik ist zum neutralen „content“, zur Massenware geworden, die in erster Linie von fachfremden Unternehmen – Internet-Großkonzernen, Technologiefirmen und neuerdings sogar Supermarktketten – zum Flatrate-Kurs oder gar kostenlos angeboten werden. Das gesellschaftliche Streben nach persönlichem Besitz wird sukzessive abgelöst durch den Wunsch, möglichst umfangreichen Zugang zu haben: die Verkaufszahlen für physische Tonträger sind radikal eingebrochen, bezahlte Downloads scheinen nur eine Übergangslösung zu sein, spätestens seit der Markteinführung von Apple Music ist Streaming das Modell der Stunde.

Analog dazu scheint das Zeitalter der sozialen Distinktion durch musikalische Hörgewohnheiten von einer Form der musikalischen „Allesfresserei“ abgelöst zu werden, wie Michael Parzer in seinem Artikel „Ich hör alles von Punkrock bis Klassik!“ erörtert5.

Diese Entwicklungen sorgen für eine gefühlte Nivellierung jeglicher Wert- und Qualitätsunterschiede: belanglosester Vier-Akkorde-Pop steht gleichberechtigt neben Jazz und symphonischen Werken, alle sind jederzeit und überall (fast) kostenlos verfügbar.

In seinem Artikel „The Devaluation of Music: It‘s Worse Than You Think“ stellt Craig Havighurst heraus, warum die schleichende Entwertung von Musik besonders zu Lasten der Kunstmusik geht6. So gebe es einen Kontextverlust, wenn ein Musikstück, wie auf digitalen Plattformen üblich, auf drei Basisinformationen (Interpret, Stücktitel, Albumtitel) reduziert wird. Dies begünstige den oberflächlichen Konsum von Musik und erschwere Fan-Tum und Musikliebhaberei. Zusätzlich sende die Verschmelzung diverser medialer Formate – Musik, Filme, Podcasts, Spiele etc. – auf der selben Plattform das fatale Signal, dass „nur“ Musik nicht mehr ausreiche.

Ferner beklagt Havighurst, dass in der „Musik in Schulen“-Debatte zunehmend mit den positiven Sekundäreffekten von Musik geworben werde, nicht aber damit, dass Musikunterricht Schüler musikalischer mache – und damit geneigter, sich intensiver mit Musik auseinanderzusetzen.

Vielleicht das wichtigste Argument ist aber jenes, das Havighurst mit „Anti-Intellectualism“ überschreibt: dass Musik seit Jahrzehnten nur noch über seine Fähigkeit zur Emotionalisierung vermarktet werde, Kunstmusik jedoch etwas viel Größeres schaffe, nämlich die Verbindung von Emotion und Intellekt sowie den Brückenschlag zu anderen Disziplinen (Mathematik, Architektur, Philosophie, Symbolismus...). Da jene aber in weiten Teilen der Medienlandschaft ebenso wenig stattfänden wie die Kunstmusik, verkümmere zusehends die Fähigkeit der Gesellschaft, einen geisteswissenschaftlichen Zugang zur Musik zu finden.

Was kann für den Jazz getan werden?

Doch zurück zum Jazz und seiner speziellen Situation. Die Musikform Jazz hängt gewissermaßen zwischen allen Stühlen – weder ist sie solide institutionalisiert und gefördert wie die „angestammte Hochkultur“ von Klassik und Neuer Musik, noch vermag sie sich wirtschaftlich selber zu tragen wie die populären Musikformen. Jazz ist Kunstmusik mit hohem Unterhaltungswert. Jazzmusiker sind Künstler und gleichzeitig immer auch freie Unternehmer ihrer selbst.

Aufgrund dieser Doppelstruktur macht es für den – nennen wir ihn ruhig so – wirtschaftlichen Überlebenskampf des Jazz strategisch Sinn, zweigleisig zu fahren. Auf der einen Seite ist dauerhafte politische und kulturelle Lobbyarbeit unabdingbar. In diesem Bereich wurde in den letzten Jahren bereits viel Boden gut gemacht, etwa durch die Einrichtung einer Fachmesse (jazzahead), die Neubelebung der Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) und die Arbeit der Bundeskonferenz (BK) Jazz und diverser Landesarbeitsgemeinschaften (LAG). Dank dieses Einsatzes konnte jüngst etwa die Vergabe des Spielstättenprogrammpreises (der neuerdings „Applaus“ heißt) verstetigt werden. Auch scheint das politische Bewusstsein der Jazzszene erwacht und gestärkt zu sein.

Die zweite Strategie betrifft die Bewerbung der eigenen Produkte. Dass diese musikalisch wie gesellschaftlich relevant sind, ist erwiesen. Nur müssen sie auch gehört werden. In der Kommunikationswissenschaft heißt es zur Relevanz, die Aufmerksamkeit des Rezipienten für eine Nachricht werde „von der Neuigkeit, der formalen Auffälligkeit (Präsentation) und von der Relevanz der Inhalte“ beeinflusst. Die Frage, ob Inhalte für sie relevant seien, entschieden die Rezipienten subjektiv anhand ihres diesbezüglichen Alltagswissens sowie ihrer Einschätzung des jeweiligen Mediums und des Kommunikationsmittels7.

Um die Neuigkeit des Jazz braucht man sich keine Sorgen zu machen; Art und Form der Präsentation können bei Bedarf angepasst und verbessert werden. In erster Linie aber müssen wir offensiv dafür sorgen, dass mehr Menschen wissen, dass es Jazz gibt, wo er stattfindet, wie er klingen kann und warum sich eine (selbst oberflächliche) Beschäftigung mit ihm lohnt.

Das Wort Relevanz ist lateinischen Ursprungs – relevare bedeutet „eine Sache wieder bzw. erneut in die Höhe heben“8. Jazz braucht mehr öffentliche Aufmerksamkeit – diese zu generieren kostet Zeit, Kraft und Geld und gelingt nur mit gemeinsamen Anstrengungen, mit Multiplikatoren, mit dauerhafter medialer und institutioneller Unterstützung.

Verschwenden wir also keine Zeit mit Scheindebatten.

Anmerkungen

1 siehe http://www.jazzzeitung.de/cms/author/benjamin
2 siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Relevanz
3 siehe http://www.jazzzeitung.de/cms/2015/07/audience-development-11-warum-ist…
4 siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Relevanz
5 Parzer, Michael: „Ich hör alles von Punkrock bis Klassik!“. Grenzüberschreitender Musikgeschmack in der Gegenwartsgesellschaft, in: Musikforum 4/11, S. 18-21
6 http://medium.com/cuepoint/the-devaluation-of-music-it-s-worse-than-you…
7 siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Relevanz
8 siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Relevanz

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