Der Geiger Gregor Hübner ist in vielerlei Hinsicht ein Wanderer zwischen den Welten. Einmal, weil der 1967 in Stuttgart Geborene und am Bodensee Aufgewachsene nach seinem Studium der klassischen Violine und des Jazzpianos in Wien, Stuttgart und schließlich an der Manhattan School of Music in New York dort eine Familie gründete und dort seit mehr als 20 Jahren seinen Hauptwohnsitz hat – zugleich aber den Kontakt in die alte europäische Heimat nie abreißen ließ: Seit 2009 hat er einen Lehrauftrag, seit 2017 eine Professur an der Hochschule für Musik und Theater München, weshalb er hier ebenfalls zu Hause ist.
Aber auch musikalisch pendelt Hübner zwischen den Welten: Von Tango Five, einem der erfolgreichsten Ensembles des modernen Tango über die immer noch bestehende Spaßband Berta Epple mit seinem Bruder Veit und über das Dominic Duvall String Quartet oder das Kammerorchester Philharmonia Virtuosi bis zu Kollaborationen mit Dianne Reeves oder Uri Caine. Wegweisend – besonders für eine neue, gelungene Verschmelzung von Klassik und Jazz – war seine jahrelange Zusammenarbeit mit dem New Yorker Pianisten Ritchie Beirach in dessen Trio, unter anderem bekam man für das Album „Round About Mompou“ eine Grammy-Nominierung. Gerne und oft spielt Hübner in Latin Bands, immer wichtiger wurden seine eigenen Ensembles, das New York NRG Quartet mit Luis Perdomo, Hans Glawischnig und Billy Hart, sein inzwischen auf mehreren Alben dokumentiertes Projekt El Violin Latino und das gleichberechtigte Kollektiv Sirius Quartet, das 2007 in der legendären New Yorker Knitting Factory sein Debüt gab. Schließlich steht er durch diese vielen Tätigkeiten auch in einer Vermittlerrolle zwischen den Generationen.
All das floss zusammen, als er 2014 an der Musikhochschule München das „Munich Composers Collective“ gründete. Vorbild war das Frankfurter Ensemble Modern: Ein antihierarchisch organisierter Klangkörper, der Elemente von kontemporärer Klassik, Jazz, Independent Rock und zeitgenössischer improvisierter Musik vereint. Was sich schon in der Besetzung niederschlägt. Basis bildet eine klassische Bigband, die aber durch Streicher und Electronics erweitert wird. Die MCC-Mitglieder kommen aus den verschiedensten Sparten der Musikpraxis, vom Jazz und aus der Klassik, aber auch von Punk, Rock, zeitgenössischer und Filmmusik, und alle sind nicht nur Musiker, sondern dem Ensemblenamen entsprechend auch Komponisten. Zum Großteil freilich sind sie Alumni (und oft ehemalige Studenten Hübners) des Jazzinstituts der Münchner Musikhochschule, die zum Teil bereits beachtliche Karrieren und sich einen Namen gemacht haben, zum Beispiel die durch ihre eigene Bigband und zuletzt das Progrock-Jazz-Trio TMT xplosiv bekannte Monika Roscher, der Trompeter und Bayerische Kunstförderpreisträger Matthias Lindermayr, der Pianist und erste „BMW Young Artist Jazz Award“-Preisträger Josef Reßle, der vieldekorierte Saxophonist Moritz Stahl oder der Gitarrist, Elektroniker und Jazzrausch Bigband-Mastermind Leonhard Kuhn. Aber auch herausragende junge Talente, wie die erst 26-jährige, für den Bayerischen Jazzpreis 2022 nominierte E-Bassistin Anna Emmersberger oder der soeben mit Preisen überschüttete Bassist und Multiinstrumentalist Nils Kugelmann. Angestrebt (und fast erreicht) ist eine paritätische Besetzung des MCC, das Alter liegt der Stoßrichtung entsprechend bei 25 bis 35 Jahren. Hübner ist also gewissermaßen der „elder statesman“ des Ensembles.
Dies alles garantiert eine genreübergreifende Musizierhaltung, die alle musikalischen Zwischenbereiche auszuloten versucht. Stile sollen überwunden werden, und dies bühnenreif für die verschiedensten Spielorte – vom klassischen Konzerttempel oder der Oper bis zum Jazz- oder Pop-Club – und Publikumsschichten. Im Mittelpunkt der kreativen Arbeit steht immer auch die Frage, wie Musik im 21. Jahrhundert Hörer verschiedenster Genres zusammenbringen kann. Dass dies funktioniert, bewies das MCC unter anderem bereits bei Auftritten beim Jazz Festival Stuttgart und beim Progressive Chamber Music Festival – ein weiteres typisches Projekt von Gregor Hübner, entspringt es doch derselben Grundhaltung wie das MCC: „Der stetige Austausch von Musikern und Ensembles rüttelt an den Grundpfeilern des musikalischen Establishments“, sagt Hübner. Kennengelernt hat er dieses Rütteln am intensivsten in der Weltmusikhauptstadt New York, weswegen Hübner dort schon 2006 dieses Festival vom Stapel ließ, im für ungewöhnliche Projekte berühmten „Spectrum“. Einen vergleichbaren Club gibt es seit ein paar Jahren auch in München: die Milla, deren künstlerischer Leiter der Filmmusikomponist und Gitarrist Gerd Baumann ist, Freund und Professorenkollege von Hübner an der Musikhochschule. Im Club Milla soll nun auch der nächste, bislang wohl größte Schritt des MCC öffentlich werden. In den vergangenen (Corona-)Jahren hatte man Kompositionen der Mitglieder gesammelt, die die kulturellen Veränderungen der jüngsten Zeit aufnehmen und widerspiegeln sollten. Dies wird nun – bei Proben im Kulturzentrum Gasteig in München und in der Landesakademie Ochsenhausen sowie begleitet von einem Video- und einem Dokumentarfilm-Team – zu einem Konzertprogramm verdichtet: gewissermaßen ein Soundscape der Gefühle und Gedanken unserer Gesellschaft. „In Zeiten großer Zerrissenheit und Unsicherheit auf der ganzen Welt kann Musik eine gesellschaftliche Spiegelung von Ängsten, Gedanken, Chancen und Ideen wertfrei und barrierefrei transportieren“, umschreibt Gregor Hübner den Leitgedanken des Projekts.
Nach ersten Auftritten und Aufnahmen (das Album zum Projekt soll bei Enja erscheinen) soll es nun zunächst bei drei Konzerten in der Milla von Juni bis Dezember live vorgestellt werden. Und zugleich wegweisend wirken für das nächste Progressive Chamber Music Festival ebendort.