Ein Konzert allein, das ist heute meist zu wenig. Bei der immer stärkeren Konkurrenz der Kulturangebote muss es schon ein Event sein. Und ein Festival bürgt immer noch für Event-Charakter. Dementsprechend nimmt die Zahl der verschiedensten Festivals nach wie vor zu, weswegen wiederum manch alteingeführtes Jazzfestival unter Druck gerät. Wie also gleichzeitig die Tradition hochhalten und das Publikumsinteresse neu wecken? Dafür kann man von Burghausen über Moers bis JazzBaltica verschiedene Rezepte finden, zwei interessante Neuansätze seien hier kurz beleuchtet.
Da ist zum einen „Bingen swingt“. Wie schon der Titel andeutet, war das dreitägige Altstadt-Festival in der malerischen 25.000- Einwohnerstadt am Rhein eine vom Banjospieler einer Dixieband geleitete, sehr brave, vorwiegend dem Oldtime-Jazz zugewandte Angelegenheit. Was beim Publikum durchaus ankam, aber nach nun 20 Jahren nicht mehr den Kulturauftrag erfüllte, wie ihn die junge Kulturreferentin Patricia Neher versteht. Eine behutsame Neuorientierung musste her, und nach einem Übergangsjahr hat man dafür Christiane Böhnke-Geisse engagiert, die mehr als 20 Jahre lang das Programm des Münchner Jazzclubs Unterfahrt gestaltet hat. Sie machte etwas Verblüffendes, weil verblüffend Einfaches: Sie stellte die Münchner Szene in den Mittelpunkt.
Schon das Eröffnungskonzert – leider wegen Gewitters von der Rhein-Nahe-Eck-Open-Air-Bühne nach drinnen ins NH Hotel verlegt – präsentierte mit dem Christian Elsässer Jazz Orchestra die Crème de la Crème der Münchner Jazzszene, vom Bassisten Henning Sieverts über die Saxophonisten Till Martin und Ulrich Wangenheim oder die Trompeter Nemanja Jovanovic und Matthias Lindermayr bis zum Posaunisten Roman Sladek, der ja selbst seit einiger Zeit mit seiner Jazzrausch Bigband für Furore sorgt. Auch Matthieu Bordenave saß da im Saxofon-Satz, um tags darauf in dem zwischen Folk-Jazz und Avantgarde changierenden Quintett anzutreten, das er zusammen mit dem Gitarrenveteranen Geoff Goodman gegründet hat. Schon parallel zur Eröffnung stand auf einer der vier Altstadtbühnen die Saxofonistin und Sängerin Stephanie Lottermoser, ein groovendes junges Münchner Aushängeschild. Direkt danach legte Pete York mit „Drum Boogie“ los. Die ebenso Jazz- wie Rock-affine britische Schlagzeug-Legende ist ja auch schon seit Jahrzehnten im malerischen Münchner Umland beheimatet. Die bayrisch-weltmusikalische Seite durfte – nicht nur wegen des mitgebrachten eigenen Bieres sehr erfolgreich – die Unterbiberger Hofmusik repräsentieren. Sogar das Flüchtlingsprojekt Poetricks, in dem Junge Einheimische mit und ohne Migrationshintergrund, Studenten wie Arbeitslose, zusammen mit Flüchtlingen Weltmusik, Soul und Hip-Hop spielen, fand sich am Rhein ein. Und selbst das Rahmenprogramm kam aus München: Jazz-Autor Ralf Dombrowski, der vor einigen Jahren auch seine Leidenschaft für die Fotografie entdeckte und professionalisierte, zeigte in einer Ausstellung seine besten Jazzbilder.
Man darf behaupten, dass in München selbst noch nie so viele Münchner Jazzer auf einen Streich zu sehen waren. Was natürlich noch keine Qualität an sich ist, doch die thematische Klammer eines Jazz-Mikrokosmos erschien durchaus nachahmenswert; zumal verwoben mit Künstlern der niederrheinischen Szene selbst, ein paar das traditionelle Motto verkörpernden Bands wie dem Glenn Miller Orchestra und mit ein paar jungen Gästen aus der Weltspitze wie dem Stimmartisten Andreas Schaerer (mit dem neuen Quartett A Novel of Anomaly) oder dem Trio des Schweizer Wahlberliners Stefan Rusconi.
Herkunft als Thema durch ein Ländermotto, damit arbeitet seit ein paar Jahren auch das Südtirol Jazzfestival Alto Adige. Radikaler als dort wird es wohl freilich nirgendwo sonst umgesetzt. Der Arzt Klaus Widmann, seit 12 Jahren Festivalchef, sieht die Heilung der einst durch den Einkauf großer amerikanischer Namen für einen kleinen Zirkel definierten Veranstaltung ganz offenkundig in einer radikalen Verjüngung aller Seiten. Junge Wilde, wie der in vielen Szenen und Stilen beheimatete Allgäuer Musikant Matthias Schriefl, der Schweizer Neuerfinder der Vokalmusik Andreas Schaerer oder die Kölner Saxophon-Rebellin Angelika Niescier bekommen bei ihm cartes blanches, artist-in-residence-Aufträge und ein stillschweigendes Wiederkehrrecht. Und spannte Widmann zuletzt noch vergleichsweise prominente Jungstars wie Vincent Peirani (Frankreich) oder Kit Downes (England) als Zugpferde vor seine Länderschwerpunkte, so kam die diesjährige, angesichts der Grenz- und Flüchtlingsproblematik beklemmend aktuell auf Österreich und Italien zugeschnittene Ausgabe praktisch ohne Gallionsfigur aus. Stattdessen ließ Widmann ungebremst dem Experiment freie Bahn – mit so mancher dazu gestifteter Besetzung und wie gewohnt an außergewöhnlichen, mitunter überwältigenden Spielorten.
Mit oft überragendem Ergebnis, wie schon beim großangelegten österreichisch-italienischen Opening des Melting Orchestra von Lukas Kranzelbinder und Dan Kinzelman zwischen den Obstkisten des Fruchthofs Überetsch. Oder beim historischen, unfassbaren 45-Minuten Trompeten-Solo von Peter Evans im Museion. Oder bei der Planetariumsmusik des Trios Huerri/Hautzinger/Niggli. Oder beim um sechs Tiroler Sängerinnen und zwei Instrumente erweiterten Hütte & Chor des Berliner Schlagzeugers Max Andrzejewski quasi auf dem Völser Weiher. Oder, oder, oder. Bis hin zu den zusammengewürfelten Formationen beim „Jazz-Lab“ in einem erstaunlich gut klingenden Würfel in einer riesigen Halle der – neuer Partner und neuer Spielort – Messe Bozen. Das Erstaunlichste: Diese konzertanten Versuchsanordnungen waren besser besucht denn je, mit einem überdurchschnittlich jungen Publikum. Das zeigt: Mit Mut, Haltung und Stehvermögen kann man auch im Jazz für frischen Festivalwind sorgen.