„Es hätte bei den Proben beinahe zur Scheidung geführt, aber wir haben es noch geschafft.“ Was für ein Glück fürs Publikum! Alexander von Schlippenbach, der James Dean des deutschen Freejazz, mit 85 Jahren wohl der älteste musikalische Akteur beim Jazzfest Berlin 2023 gab in einer Bühnenansage schonungslos Einblick in sein Eheleben. Es ging um die Komposition „Zankapfel“, die genauso klingt, wie sie heißt, und die er mit seiner Frau Aki Takase an einem Flügel vierhändig spielte. Hier eine kantige Figur, dort ein schroffer Gegenakzent, Hände greifen übereinander, die Stimmführung wechselt ständig, wer hat hier das sagen? Beide? Niemand? Ein großartiges musikalisches Gegeneinander, das am Ende doch zum Miteinander wurde und trotz der Sperrigkeit zu den emotionalen Höhepunkten des Jazzfests 2023 gehörte - und das ganz zu Beginn des Festivals.
Zwischenmenschliches und Zwischentöne
Der Eröffnungstag der 60. Edition, die bewusst noch keine Jubiläumsausgabe sein sollte, des richtungsweisenden Jazzfestivals mit herausragender internationaler Strahlkraft war eine dramaturgische Meisterleistung von Programmchefin Nadin Deventer. Ein leiser Beginn mit dem Duo von Pianistin Sylvie Courvoisier und Gitarristin Mary Halvorson steigerte Spannung. Beide, in den letzten Jahren immer wieder zu Gast beim Jazzfest, spielten eine Kammermusik mit Freude am Komplexen, aber selten Komplizierten. Das war keine Eröffnung mit Knalleffekt, dafür ein Ohrenspitzer, für das was noch kommen sollte. Denn direkt danach erlebte eins der größten Projekte in der Jazzfestgeschichte seine Premiere. Zum ersten Mal stand ein Kinderchor auf der Bühne. Die französische Band „Novembre“ hatte das Projekt „Apparitions“ entwickelt. An mehreren Stellen des knapp 1000 Menschen fassenden Hauses der Berliner Festspiele waren Gesangsgruppen aus dem Kinderchor platziert, ein Cello erklang vom Hintereingang, Schlagzeug- und Saxophonklänge drangen durch die geöffneten Seitentüren. Eine bunte, virtuose Aneinanderreihung von „Erscheinungen“ („Apparitions“ auf deutsch) war das, die für den überkritischen Festivalstammgast auch Längen hatte, aber durch die positive Power von „Novembre“ und die Energie der 30 Kinder zu einem großen Spektakel wurde, das unbedingt seinen Platz im Festivalprogramm haben sollte!
Danach nur zwei an den Tasten: Aki Takase und Alexander von Schlippenbach mit einem Konzert, in dem die Menschlichkeit und das Miteinander in der Musik auf unterhaltsame und niveauvolle Art gefeiert wurde. Den Abschluss dieses schon vollen Tages gestaltete die Sängerin und Kontrabassistin Fuensanta auf der Seitenbühne bei einem Stehkonzert. Sie entführte in faszinierende Klangwelten beeinflusst von ihrer mexikanischen Heimat. Diese Musik klang teilweise produziert wie aktuelle Popmusik, mit dicken Bässen und elektronischen Effekten, hatte dabei aber den Freiheitsdrang des modernen Jazz und die Klangsinnlichkeit von klassischer Chormusik, denn an Fuensantas Seite war noch eine vierköpfige weibliche Vokalgruppe zu hören, dazu noch Drummerin Sun Mi Hong und Drummer Guy Salamon sowie zwei Blasinstrumentalisten: Ein Erlebnis!
Dramaturgisch wurde Festivaltag zwei nicht ganz so eine Offenbarung, denn der Abschluss „Sonic Dreams“ auf der Hinterbühne ging nicht wirklich auf. Das Publikum sollte, einer Straße in einem Chicagoer Nachtclub-Viertel nachempfunden, von Klein-Bühne zu Klein-Bühne wandern und unterschiedlichen Chicagoer Acts lauschen, die sich allerdings aus einem einzigen Künstlerpool speisten. Schon optisch bekam man wenig mit, da die Bühnen so niedrig waren, dass ab Stehreihe drei kein Musiker mehr zu sehen war. Zwar gab es tolle Momente, etwa im Trio um den Saxophonisten Ari Brown, dieser war aber auch im Schlussact „Natural Information Society“ der ausschließliche Solist und die beiden Saxophonistinnen Anna Kaluza und Mia Dyberg sowie Trompeter Axel Dörner, aus der Berliner Szene, waren zum Statisten-Dasein verdonnert. Hier ging das Konzept des Miteinanders leider nicht auf. Anders zuvor bei Schlagzeugerin Maria Portugal, Trompeterin Susana Santos Silva und Gitarrist Fred Frith, die einem klassischen Streichtrio gleich, eine völlig auf den Feinklang und gegen den lauten Effekt ausgerichtete Strecke durchimprovisierten.
Das aufwändigste Projekt des Jazzfests 2023 wurde am Samstag zur Primetime um 20 Uhr platziert. Der Chicagoer Starsaxophonist Henry Threadgill hatte rund ein Jahr lang an der Komposition „Simply Existing Surface“ gearbeitet, als Auftragswerk für das Ensemble „Potsa Lotsa XL“ der in Berlin lebenden Saxophonistin Silke Eberhard und für seine Band „Zooid“. Diese rund 60-minütige Suite war zu Beginn ein kleinteiliges Klangpuzzle, das im Laufe der Konzertstrecke immer mehr an zupackendem Groove gewann – ein anspruchsvolles Highlight des Festivals.
Den Abschluss des Jazzfests Berlin am Sonntag bildeten gleich zwei Bands, in denen das Miteinander besonders zelebriert wurde: Eve Risser’s Red Desert Orchestra und das Andreas Røysum Ensemble. Die französische Pianistin Eve Risser brachte mit ihrem Orchester, besetzt mit europäischen und westafrikanischen Musikerinnen und Musikern, das Haus der Festspiele in einen kollektiven Freudentaumel. Musik mit großer Sogwirkung ist das, die auch Menschen außerhalb des Jazz anspricht, etwas ausgeflippt, etwas chaotisch, durchgehend auf höchstem Niveau und auf eine klangliche Art liebenswert, ziemlich genauso, wie Eve Risser als Person rüberkommt. Ähnlich in der Wirkung, im Klang aber anders, zeigte sich das Ensemble des norwegischen 2-Meter-Klarinettisten Andreas Røysum.
Im Club Quasimodo beschloss er mit seinem bunten Haufen an guten Freundinnen und Freunden, die alle fantastisch ihre Instrumente spielen, das Jazzfest 2023. Ein ausgelassener Schluss, der Vorfreude auf die Jubiläumsausgabe 2024 weckt. Dann heißt es 60 Jahre Jazzfest Berlin.
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